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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

und Weh des HErrn, welches wir betrachten, zugleich den Gedanken hegen und pflegen: „Und dennoch ist das der Verklärte auf Tabor, der Sohn Gottes und Seines Wohlgefallens, die Freude und Anbetung der Himmel!“ Wir erkennen unsern HErrn nicht völlig, wenn wir Ihn nur in Verklärung, oder wenn wir Ihn nur im Leiden schauen. Die Verklärung wird heller auf dem dunkeln Grunde Seiner Leiden; die Nacht Seiner Leiden wird mehr bewundert und empfunden beim Lichte vom Tabor. Vergeßen wir keines von beiden! Laßen wir das Auge gerne zwischen Tabor und Golgatha hin und her wandeln. Wenn wir am Golgatha weinen, tröste uns Tabor; und wenn wir auf Tabor anbeten, geschehe es desto inniger, weil wir auf Golgatha gewesen. Der HErr sei uns gnädig und bereite uns durch die Betrachtung Seiner Klarheit und Seiner Todesnacht zu Seinem Anschauen. Er helfe uns heim zu den ewigen Hütten, wo man in unaussprechlichem Frieden mehr erkennt und schaut, als auf Tabor. Er helf uns gen Zion! Amen.




Am Sonntage Septuagesima.

Evang Matth. 20, 1–16.[1]
1. Das Himmelreich ist gleich einem Hausvater, der am Morgen ausgieng, Arbeiter zu miethen in seinen Weinberg. 2. Und da er mit den Arbeitern eins ward um einen Groschen zum Tagelohn, sandte er sie in seinen Weinberg. 3. Und gieng aus um die dritte Stunde, und sahe andere an dem Markt müßig stehen, 4. Und sprach zu ihnen: Gehet ihr auch hin in den Weinberg, ich will euch geben, was recht ist. 5. Und sie giengen hin. Abermal gieng er aus um die sechste und neunte Stunde, und that gleich also. 6. Um die elfte Stunde aber gieng er aus, und fand andere müßig stehen, und sprach zu ihnen: Was stehet ihr hier den ganzen Tag müßig? 7. Sie sprachen zu ihm: Es hat uns niemand gedinget. Er sprach zu ihnen: Gehet ihr auch hin in den Weinberg; und was recht sein wird, soll euch werden. 8. Da es nun Abend ward, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Schaffner: Rufe die Arbeiter, und gib ihnen den Lohn; und heb an an den letzten, bis zu den ersten. 9. Da kamen, die um die elfte Stunde gedinget waren, und empfieng ein jeglicher seinen Groschen. 10. Da aber die ersten kamen, meineten sie, sie würden mehr empfangen, und sie empfiengen auch ein jeglicher seinen Groschen, 11. Und da sie den empfiengen, murreten sie wider den Hausvater, 12. Und sprachen: Diese Letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleich gemacht, die wir des Tages Last und Hitze getragen haben. 13. Er antwortete aber und sagte zu einem unter ihnen: Mein Freund, ich thue dir nicht unrecht. Bist du nicht mit mir eins geworden um einen Groschen? 14. Nimm was dein ist und gehe hin! Ich will aber diesem letzten geben, gleichwie dir. 15. Oder habe ich nicht Macht, zu thun, was ich will, mit dem Meinen? Siehest du darum scheel, daß ich so gütig bin? 16. Also werden die Letzten die Ersten, und die Ersten die Letzten sein. Denn viel sind berufen, aber wenig sind auserwählet.

 BEi diesem Evangelium, meine geliebten Brüder, wollen wir uns einmal mit den Einzelheiten gar nicht einlaßen, sondern wir wollen hauptsächlich auf die Absicht sehen, welche unser HErr JEsus Christus im Auge hatte, als Er es sprach. Wir wollen also keine besondere Rücksicht auf die verschiedenen Stunden nehmen, in welchen der Hausvater seine Arbeiter gemiethet hat, und wollen es uns in Folge des auch


  1. Vergl. mit der in dieser Predigt vorgetragenen Lehre das Concordienbuch, Müllersche Ausgabe, Apologie, p. 147 f. „Wir aber zanken nicht um das Wort Lohn etc. − wie ein Kind für dem andern.“ Lies, wenn du kannst, das Lateinische und Deutsche, und sieh dann zu: ob nicht der Inhalt dieser Predigt wie der Schrift, so auch dem Bekenntnis der Kirche treu sei.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 106. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/117&oldid=- (Version vom 28.8.2016)