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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

nur desto mehr über die Verbindung frohlocken, welche zwischen dem König der Juden und den Heiden an’s Licht tritt, aber man wird sich gestehen müßen: hier ist mehr als Mission, hier ist nicht etwa blos die Mission im höchsten Schwange, hier ist ein wunderbarer und außerordentlicher Erfolg der Mission, ja ein Ende aller Missionen angedeutet und eine Glorie des Reiches Gottes, welche die Glorie aller Missionen überstrahlt. Das werden wir erkennen, wenn wir mit einander den prophetischen Text etwas genauer beschauen.

 Dieser Text ist ein Teil des 60. Kapitels Jesaias, mit welchem der letzte Teil der Schriften des großen Propheten beginnt. Dieser letzte Teil fällt in die späteste Zeit der Lebensjahre Jesaiä und ist wol später als die Rückkehr Manasse aus der Gefangenschaft zu setzen, so daß der Prophet selbst damals zwischen 90 und 100 Jahre alt gewesen sein muß. Was für ein Alter, zumal nach einem solchen Leben! Und doch was für eine Jugend des Geistes in dem ganzen letzten Abschnitt der Weißagung, welch ein Blick der Freuden in eine ferne Zeit, von der der 90 fast 100jährige Greis doch sicher gewußt hat, daß er sie im Leibe des Todes nicht sehen würde. Ihm thaten sich Hoffnungsfreuden auf, die für manche in spätern Zeiten rein unglaublich geworden sind. Was insonderheit das 60. Kapitel anlangt, aus welchem unser Text genommen ist, so muß ich gestehen, daß es mir eine wahre Entsagung gekostet hat, nicht alle Verse, den ganzen Verlauf des Abschnittes diesem Vortrag als Lection voranzustellen. Es will in der That das Kapitel ganz gelesen sein, wenn man den vollen Blick in die herrliche Zukunft, welche uns der Prophet enthüllt, bekommen will, und ich bitte euch alle, meine theuren Freunde, euch selbst die Epiphanienfreude zu machen und wenigstens in euren Häusern die 22 eng zusammenhängenden Verse nachzulesen.

 Die sechs ersten von diesen 22 Versen bilden unsern Text. Er ist ganz verschieden von den gewöhnlichen epistolischen Texten, die wir im Kirchenjahre zu lesen pflegen. Es kann nichts verschiedener sein. Während die Episteln Belehrung, Bestrafung oder Stellen enthalten, die zur Beßerung und Züchtigung dienen können, ist in unserm Text alles Gesicht, und das Bild einer fernen Zukunft wird aufgerollt. Da bleibt uns auch nichts anders übrig, als daß wir uns das Bild beschauen, das uns gezeigt wird.

 Man muß sich den Propheten gewissermaßen außerhalb Jerusalems wie auf einer Warte denken, auf einer Warte, die ihm den Blick nicht blos über die Stadt, sondern über die ganze Erde hin bietet. Es ist eine innere Warte der Seele und der Blick derselben wird vom Geiste Gottes selbst hell gemacht. Zuerst liegt die Welt vor dem Auge des Propheten im Dunkel und in der dunkeln Welt auch Jerusalem mit Finsternis bedeckt. Da auf einmal geht über der heiligen Stadt, während in den Landen rings umher die dichte Finsternis bleibt, ein helles Licht auf und die Herrlichkeit des HErrn erscheint über Seinem königlichen Sitze. Ein überraschender Gegensatz zwischen Jerusalem und der übrigen dunkeln Welt. Eine mächtige Freude durchdringt den Propheten, so daß er mit lauter Stimme der schlafenden Zion zuruft: „Mache dich auf, werde Licht, denn dein Licht kommt und die Herrlichkeit Jehovas gehet auf über dir; denn siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich und Dunkel die Völker, aber über dir geht auf der HErr und Seine Herrlichkeit erscheint über dir.“ Nehme man nun hier Licht und Finsternis blos geistig und geistlich, oder auch leiblich, die Sache bleibt sich gleich: Israel steht in hohen Gnaden und eine Zeit des offenbaren Vorzugs vor allen Völkern ist über ihm angebrochen. –

 Indeß das Bild geht weiter. Das Licht, welches über Zion und Israel erschienen ist, nimmt zwar die Dunkelheit nicht von den Völkern und Landen der Welt, aber es wird bemerkt, es zieht mit mächtiger Kraft die Völker an und es entsteht in der weiten Welt eine große Bewegung dem Licht entgegen, welches in Zion scheint. Das sieht der Prophet auf seiner Warte. Erstaunt ruft er der schlummernden Zion zu: „Es wandeln die Heiden deinem Lichte nach und Könige dem Glanz zu, der über dir aufgeht.“ Zion wird der Mittelpunkt, der Zielpunkt einer Bewegung, die alle Völker und ihre Könige ergreift. Die heilige Stadt weiß selbst kaum, was ihr begegnet, hat sich in ihr eignes Glück kaum gefunden, da strömt und wallfahrtet es bereits von allen Seiten auf sie zu und von allen Bergen rings umher kommen Pilgerströme gezogen. Eine große Menge, eine unabsehbare Zahl, so daß der Prophet in immer steigender Freude ausruft: „Heb’ deine Augen auf und

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 083. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/90&oldid=- (Version vom 1.8.2018)