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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

der Predigten, der Gebete, der Gesänge, der heiligen Uebungen, ein neues Jahr der Gnade und des Erbarmens, der Kräfte des gütigen Wortes Gottes und der zukünftigen Welt, und wer weise ist, der beachtet’s. Die Jahre kommen, aber sie gehen auch, es ist, als flögen sie davon, und eines ist das letzte hier, das erste dort, und bringt uns die große „Veränderung“, von welcher Hiob spricht. „Lehr’ uns bedenken, HErr, daß wir sterben müßen, daß wir davon müßen, laß uns weise werden, unsre Zeit auskaufen und sonderlich dies Jahr.“ So laßt uns beten und, Brüder, wenn unsre vergangenen Kirchenjahre uns den Segen nicht nachgelaßen haben, den sie konnten, wenn wir mit einer geringen Ernte unsrer vergangenen Jahre an der Schwelle dieses Jahres stehen, so werde es jetzt endlich einmal Ernst mit dem Kirchenjahr und der Benützung der reichen Güter, die es in sich hält und bringt. Zwanzig Jahre hab’ ich euch gerufen, eingeladen, vermahnt, gebeten, genöthigt, reich zu werden von den Gütern des Hauses Gottes, die ich unter euch feil habe und ohne Kosten biete; wie wenn ich nichts zu bieten hätte, wie wenn ich ein Bettler wäre, bin ich mit dem Reichtum JEsu Christi vor euren Thüren pochend und rufend gestanden. Ich will nicht sagen, wie ihr den Reichtum JEsu Christi an- und aufgenommen, nicht strafen, nicht schelten, nein, aber ernstlich und dringlich, mächtig, wenn ich könnte unbeweglich, möcht ich euch zurufen heute und immer wieder im Lauf des Jahres, das nun anhebt: Jetzt benützet die Zeit für eure Ewigkeit.

 Mit dieser Ermahnung treffe ich hoffentlich den Sinn der Kirche, welcher sich in der Wahl der heutigen epistolischen Lektion ausspricht, denn diese ganze Lektion handelt von nichts anderem als

von der Beachtung der Zeit und ihrer Benützung.

Ich will mich daher mit euch in diesen Text vertiefen und euch sagen zuerst, wie ihr nach den Worten des heiligen Apostels die Zeit beachten sollet, in der ihr lebet, dann zweitens, wie ihr sie benützen sollet, und am Ende drittens will ich einen Punkt absonderlich hervorheben, der mir hart auf meiner Seele liegt, die Trägheit nämlich, welche den Menschen so schwer dahin kommen läßt, zu beachten und zu benützen seine edle Zeit.


I.

 Mit dem 11. Verse des 13. Kapitels an die Römer beginnt unser Text. Zehen Verse gehen voran, welche, sowie das 12. Capitel des Briefes von einzelnen Ermahnungen des Apostels überfließen, Ermahnungen der eingreifendsten Art, samt und sonders aber auf die christliche Lebensgerechtigkeit gerichtet. Unser Text bildet den Schluß des Capitels und gibt allen den einzelnen Ermahnungen großen Nachdruck dadurch, daß er die Zeit hervorhebt, oder den Zeitpunkt, in welchem sie geschehen. „Weil wir solches wißen, nämlich die Zeit,“ übersetzt Martin Luther. Enger anschließend ans Wort des Apostels heißt es: „Und dieses, – dies alles, wozu ich euch ermahnt habe, thut, weil ihr den Zeitpunkt kennet und wißet.“ O es liegt ein starker Nachdruck für die Verpflichtungen, die wir haben, für die Ermahnungen, die man uns zu denselben gibt, in der Berücksichtigung des Zeitpunkts, da sie geschehen. Es ist ganz etwas anderes, wenn ich zur Vollführung meiner Pflichten noch eine lange weite Zukunft vor mir sehe, und ganz etwas anderes, wenn die Zeit zusammengeht, und die Sanduhr verrinnt und die Aufgabe gelöst sein soll und die Rechenschaft vor der Thüre steht! Ein jeder von euch hat das in einzelnen Fällen schon an sich selbst erfahren, will ich hoffen, und keiner wird sein, auf welchen nicht dann und wann die Rücksicht auf die flüchtige Stunde gehörigen Eindruck gemacht hat. Und das soll auch sein, das liegt in der Absicht Gottes und in dem Wort der Apostel: die Zeichen, Zeiten, Tage und Jahre, die da kommen und gehen, sollen und wollen beachtet sein. – Was nun den Text anlangt, den wir gerade vor uns haben, so erinnert der Apostel nicht bloß an den Zeitpunkt, in welchem er schreibt, sondern er beschreibt ihn auch näher. „Die Nacht ist vergangen,“ sagt er, „der Tag aber herbeikommen.“ Dem Wortlaut nach eine sehr bestimmte Rede. Es ist, wie wenn ein Mann des Morgens die Augen öffnet, und zum Fenster hinaus sieht, dort geht am Walde westlich der fahle Mond mit der Nacht unter, und im Osten erscheint die goldene Sonne; die Nacht ist vorüber, der Tag ist da, Morgen ist’s, die Morgenlüfte wehen. Aber das alles ist in unsrem Texte nur Gleichnis: was ist denn die Nacht, die vergangen ist, und der kommende Tag und der vorhandene Morgen? Unter

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 002. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/9&oldid=- (Version vom 1.8.2018)