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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Gottes. So groß die Fülle von Gedanken war, welche jeder einzelne Text darbot, konnte man doch bei keinem einzigen lange verweilen; obwol es lange Predigten gab, mußte doch jeder einzelne Teil mit einer gewissen Selbstbeherrschung und Selbstverläugnung des Predigers behandelt werden. Der heutige Text ist anders. Obwol auch er eine große Fülle der Gedanken in sich birgt, so sind sie doch alle zumal von einerlei Art und erledigen nur einen Hauptgedanken, nemlich den, wie ein Christ in dieser Welt leiden müße. Und obgleich die wunderbare und unnachahmliche männliche Fülle des Ausdrucks, welche die Briefe des heiligen Petrus kennzeichnet, dem betrachtenden Geiste Anlaß zu den mannigfaltigsten Ausdehnungen und Gestaltungen der dargelegten Hauptgedanken gibt, so liegt doch auch wieder so viel Maß in der Rede des heiligen Apostels, daß auch der Prediger es leichter findet, Maß zu halten. Darum hoffte ich, liebe Brüder, euch heute mit wenigerem zu genügen, und ohne euch allzulange aufzuhalten, die hohen apostolischen Worte lieb zu machen, wenn nicht der Hauptgedanke des Textes meine Seele besonders ergriffen hätte. Doch laßt uns zur Betrachtung kommen.

 Vorher jedoch, meine Brüder, laßt mich Weniges über die heutigen Texte und ihren Zusammenhang bemerken. Die Wahl der Texte ist im ganzen Jahre vortrefflich, und wer sie auch in frühern oder spätern Zeiten getadelt hat, beßeres hat er doch nicht geliefert, auch Luther nicht, der so manchmal in seinen Postillen die Textwahl tadelt. Die Wahl der Lectionen des Kirchenjahres könnte ein großes Kunstwerk genannt werden, wenn sie nämlich das Werk einzelner uns bekannter Männer wäre. Das sind sie nun aber gerade nicht. Daher kann man sie eher einem wundervollen Gewächse vergleichen, welches nach göttlicher Vorsehung zum Heile und zur Freude vieler aus dem Boden der Kirche hervorgewachsen ist. Doch ist dies Gewächs nicht in allen seinen Teilen gleich vollkommen. Der vollkommenste Teil umfaßt die Lectionen der Fastenzeit und Osterzeit. Weniger vollkommen ist die Weihnachtszeit gerathen. So liest man z. B. am 6. Januar eines jeden Jahres die herrliche Geschichte von dem Besuche der Weisen aus Morgenland bei dem neugebornen König der Juden, am Sonntag nach Neujahr aber, der notwendig vor dem 6. Januar kommen muß, liest man die Geschichte von der Flucht JEsu nach Egyptenland und dem bethlehemitischen Kindermord, welche doch erst nach dem Besuche der Weisen eintreten konnte. Man greift also damit nicht ganz paßend voraus, und das, meine lieben Brüder, möchte allerdings eine Art von Tadel für unsre Textwahl sein. Allein in einer andern Rücksicht hat man gleich wieder alle Ursache, die Weisheit zu bewundern, welche sich bei der Textwahl so oft ausspricht. Im Evangelium sieht man nämlich den neugebornen JEsus auf der Flucht und die Kinder von Bethlehem in Todesleiden um Christi willen. Eng anschließend redet die Epistel von der Gemeinschaft der Leiden JEsu und vom Verhalten des Christen in seinem Leiden um des Glaubens willen. Wie schön paßt da die apostolische Lehre zur heiligen Geschichte. Man kann bei allem, was die Epistel an die Hand gibt, an den Inhalt des Evangeliums denken, und die kleinen Kinder von Bethlehem, diese Blüten der großen Wolke von Blutzeugen des HErrn JEsus, können mit ihren Todesschmerzen hinwiederum reichlich dazu beitragen, daß uns die Worte Petri desto tiefer in die Seele gehen. So vergeßt also, meine lieben Brüder, das Evangelium nicht, wenn ich euch nun den Inhalt der Epistel vorlege. Der HErr aber verleihe, daß ihr durchs Wort des Apostels gespeist, getränkt und erquickt von hinnen geht.

 Von dem Leiden des Christen handelt unser Text. Da laßt uns nun zuerst aus seinen eignen Worten entnehmen und lernen, was für Leiden das seien; dann wollen wir uns unterrichten laßen, wie man diese Leiden anzusehen, und endlich wie man sie zu tragen habe. Werden wir diese drei Stücke erkannt haben, so werden wir wol auch die drei Hauptstücke des Textes verstehen, die ja nichts andres enthalten, als Antwort auf die genannten Fragen.

 Niemand leide, sagt der Apostel im 15. Vers, als ein Mörder oder Dieb oder Uebelthäter oder der in ein fremd Amt greift.“ Die Leiden also, welche man zur Strafe der genannten und andrer schwerer Sünden zu tragen hat, sind nicht die Leiden des Christen, und von ihnen kann weder in unserm Texte, noch sonst die Rede sein. Die Strafen der Sünden können durch die Bekehrung des Sünders auch geheiligt werden und eine andre Natur annehmen, wie

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 071. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/78&oldid=- (Version vom 1.8.2018)