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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

suchen, weil es ja einen Zustand der Gesetzlichkeit gibt, in welchem der Mensch, vermöge der falschen Deutung, die er dem Sittengesetze gibt, innerlich dem Juden ähnlich wird, der sich noch nach 1800 Jahren mit Satzungen abmüht, die ihre Bedeutung längst verloren haben. Wenn es nun auch keineswegs so ist, daß jetzt noch ein jeder auf dem Wege zum Heil notwendig eine Periode der Gesetzlichkeit durchmachen muß, und es gar wol sein kann, daß einer, der zur Erkenntnis kommt, schnell in die evangelische Freiheit und Seligkeit hineintritt; so kommt doch die Gesetzlichkeit sehr häufig vor, namentlich in unsrer Zeit, die noch so sehr an den Nachklängen des Pietismus leidet, und in welcher daher oft gerade die redlichsten Seelen von gesetzlicher Schwachheit und irrendem Gewißen schwer angefochten werden. Man macht zu wenig Fortschritte im Guten, – es scheint, als gehe man rückwärts, statt vorwärts, man entdeckt immer eine neue Sünde im vergangenen Leben oder in der Tiefe der Seele; anstatt daß es einem je länger, je woler würde, wird man seiner selbst und der quälenden Sündennoth immer müder, und weil alle Anstrengung, die man macht, und alle Mühe, die man sich gibt, doch nicht dahin führen, daß man mit sich selbst zufrieden sein könnte; so wird die Anfechtung immer größer und eine immer wachsende Angst legt sich über die arme Seele. Da scheint man umsonst zu leben und zu Christo nicht zu gehören, man sieht in sich selbst nichts als Heuchelei und Gleißnerei und wagt es nicht mehr, sich Gott in Christo JEsu zu nahen. Anfangs, da man in Sachen des ewigen Heiles begann ernster gesinnt zu werden, wagte man es allenfalls und hatte dabei selige Stunden. Was soll man aber nun machen, nachdem man ein alter Christ, und dabei je länger, je unruhiger geworden ist und gar nichts in sich spürt, als Erkenntnis der Sünde und Gottes Zorn, wie er aus dem Gesetze fließt? In diesem Zustand, meine Freunde, ist man allerdings ein armer Jude geworden und in Gefahr, der Anfechtung eigner Gerechtigkeit zu erliegen. Der Satan betrügt einen um den Frieden Gottes durch die immer neue Qual, die er im Herzen des Menschen erregt, der das Beßere will. Das Auge schließt sich immer mehr für die Sonne der Gnade, die am Himmel leuchtet, und eine tiefe Nacht und Traurigkeit umgibt das arme, müde Herz. Aus der Anfechtung fließen tiefe Leiden, welche sich namentlich bei gewissen krankhaften Anlagen des Körpers zu Gemüthskrankheiten, ja bis zum Wahnsinn steigern können. Die Lage eines solchen Herzens ist bedauernswerther, als die des Juden, denn der wartet doch noch auf eine beßere Zeit, die ihm sein Messias bringen soll, während der gesetzliche Christ nicht mehr wartet und nicht mehr hofft, sondern verzweifelt und sein Leiden für unheilbar, sich selbst für unrettbar hält. Da helfen dann keine Trostgründe, die Seele versinkt in der Wollust ihrer Schmerzen, ist mistrauisch gegen jede dargebotene milde Hand, und hält für wahr nur das Wort desjenigen Menschen, der alle Hoffnung abschneidet und das gewisse Ziel den armen Geängsteten in den Flammen der Hölle suchen heißt. – Diese Zustände sind so schrecklich und kommen so oft vor, daß sie auch manchen unter euch bekannt sind, und daß ich gar nicht überrascht sein würde, wenn der oder jener unter euch die Bemerkung machen wollte, daß meine Beschreibung lange nicht an die Wahrheit reicht und die Leiden der Anfechtung weit größer und quälender seien. Aber auch das wäre nichts anders, als die Gesetzlichkeit und ihre schlimme Art, vermöge welcher das Auge an die Nacht und das Ohr dermaßen an das Grausige gewöhnt ist, daß man von einem gnädigen Jahr des HErrn und von einem Troste Israels nichts wißen will. So geplagten Menschen kann man gewis keine beßere Arznei reichen, als die, welche im zweiten Teil unsres Textes gegeben ist, die an andern Stellen der heiligen Schrift noch glänzender dargelegt ist, immerhin aber auch aus unsrem Texte licht und klar genug quillt, um ein armes Herz zu heilen.

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 Die Zeit der Mündigkeit wird in unserm Texte gegenüber der der Unmündigkeit mit dem Namen Glaube bezeichnet. „Ehe aber der Glaube kam,“ drückt sich der Apostel im ersten Vers des Textes aus. Wie die alttestamentliche Zeit durch das Wort Gesetz, so wird die neutestamentliche durch das Wort Glaube charakterisirt. Und wie das Gesetz den Menschen nach Art eines Hofmeisters drückt und knechtet, so wird der Mensch durch den Glauben ein erwachsener, freier und seliger Sohn des HErrn. Wenn übrigens der Apostel sagt: „Ehe der Glaube kam,“ so kann man versucht werden, die Frage aufzuwerfen, ob unter dem Glauben mehr die Zuversicht unsrer Seele auf die göttlichen Heilsthaten, oder mehr diese Heilsthaten

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 064. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/71&oldid=- (Version vom 1.8.2018)