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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

wie oft ich euch an dem wiederkehrenden Namensfeste des HErrn aufmerksam gemacht habe, daß nach der Lehre des heiligen Paulus im Briefe an die Philipper sich im Namen JEsu beugen sollen alle Kniee derer, die im Himmel, auf Erden und unter der Erden sind, und alle Zungen bekennen sollen, daß JEsus Christus der HErr sei, zur Ehre Gottes des Vaters. Wenn ich euch auf Grund der eben angeführten Sprüche allezeit zu kniebeugender Andacht bei Nennung des Namens JEsu vermahnt und aufgefordert habe, so ist mir insonderheit dieser Tag, das Namensfest unsres HErrn, ein Tag der Kniebeugung und Andacht, an welchem ich euch mit dem 95. Psalm einlade und rufe: „Kommt herzu, laßt uns dem HErrn frohlocken und jauchzen dem Hort unsres Heils; kommt laßt uns anbeten und knieen und niederfallen vor dem HErrn.“ Die Hirten, von denen wir gehört haben, und die Weisen, von denen wir hören werden, sollen uns Vorbilder sein, welche zur Nachahmung reizen. Doch aber dürfen wir, lieben Brüder, nicht vergeßen, daß zu solcher Anbetung Texte wie die heutige Epistel mächtig reizen, und daß wir kaum uns selber zur Freude des Namens JEsu mehr bereiten können, als wenn wir, frei von aller Vormundschaft und Unmündigkeit, gerechtfertigt und in den Glanz des Verdienstes Christi, ja in Christum selbst gekleidet, unsre Stelle am großen Leibe JEsu Christi einnehmen und bedenken und uns des großen Reichtums freuen, den wir in Christo JEsu besitzen. Darum laßt uns nur guten Jahresanfang machen und fröhlich hineinsteigen in die erquickenden Waßer unsres Textes; der HErr aber gebe, daß durch die evangelischen Worte, die wir betrachten, wir rein werden von Sünd und Gebrechen, gerecht und heilig in JEsu.[1]

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 Die Zeit der Vormundschaft wird in diesem Texte auf eine doppelte Weise dargestellt. Die eine ist hergenommen vom Leben des einzelnen Mündels unter dem Zuchtmeister. Die andere aber deutet auf eine Erweiterung des ersteren Verhältnisses, wie sie nötig wird, wenn der Mündel so viele sind, wie man sich bei Erklärung des Gleichnisses denken muß; denn haben uns unter den Mündeln wenn auch nicht die ganze Menschheit, so doch das jüdische Volk zu denken. Wie verständlich zur Anwendung wird uns beides nur werden, wenn wir die Erklärung aus den Sitten des Altertums nehmen. Es geht hier, wie es bei Betrachtung der heiligen Schrift so oft geht, wie auch der heilige Hilarius von Pictavium gesagt hat: „die Aussprüche der heiligen Schrift gewinnen Licht aus den Verhältnissen.“ – Der edle Knabe des Altertums verlebte seine Jugend und die Zeit seiner Unmündigkeit unter der Aufsicht eines Pädagogos, d. i. eines Erziehers, wie Luther für uns neuere Deutsche mit etwas grimmem Ausdruck übersetzt, „eines Zuchtmeisters“. Dieser Pädagog oder Zuchtmeister war häufig aus der Sklavenfamilie des Vaters genommen. Er war nicht Lehrer des jungen Knaben, aber er begleitete ihn auf dem Gang zu seinen Lehrern hin und her, ja nicht bloß auf dem Gang zur Schule, sondern auf allen Tritten und Schritten, und der Jüngling konnte bis zu der Zeit, da er in das mündige Alter eintrat, ohne Willen und Wißen seines Pädagogos auch nicht das mindeste thun, mußte sich allewege hofmeistern laßen und fügen. Je älter er wurde, je mehr seine Sehnsucht nach Unabhängigkeit und Freiheit erwuchs, desto mehr mußte ihm das Leben unter dem Joch des Pädagogos als reine Sklaverei vorkommen. Bei den Griechen und Römern wurden alle Jünglinge auf diese Weise erzogen, und es konnte sich daher der einzelne nicht darüber beklagen, daß ihm ein besonderes Unrecht geschähe. Der Pädagog, unter welchem der Jüngling seufzte, konnte der ehrwürdigste Mensch von der Welt sein, der Mündel konnte zu ihm persönlich das größte Vertrauen haben. In der Sache aber änderte das gar nichts, es war eben das Leben unter dem Pädagogos oder Hofmeister eine Art von Sklaverei, und man wurde der immerwährenden Einsprache und Mahnung nicht los. Erträglich wurde es nur durch die Hoffnung auf die Zeit der Mündigkeit, bei deren Eintritt mit einem Male sich alles änderte. Denn da trat ja der Pädagogos zurück, und wenn er ein Sklave war, stand er von nun an mehr unter seinem Zögling, als dieser vorher unter ihm. Dann sprach nicht mehr der Sklave dem Herrn ein, sondern wie wenn ihm auf einmal die Weisheit gekommen wäre, konnte nun der bisherige Zögling seinen Erzieher meistern. Es gieng da ungefähr wie bei uns mit dem weiblichen Geschlechte. Da ist ein Mägdlein von 17, 18 Jahren, an welchem nach der Frauenzimmer Weise alle Verwandtinnen und Gespielen etwas zu tadeln


  1. Per evangelica dicta deleantur nostra delicta.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 062. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/69&oldid=- (Version vom 1.8.2018)