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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

eingetreten ist, wird auch jenseits nicht eintreten. Der Anfang alles Guten ist nicht dort, sondern hier; dort wird nichts empfangen, was nicht hier den entsprechenden Anfang genommen hat.

 Es ist also das Erbe, in welches der Mensch nach der Vormundschaft der alten Zeit durch Christum eintreten soll, die Gnade des neuen Testamentes und der Reichtum alles Verdienstes Christi, sammt Christi Leib und Blut.

 Da man nun aber für eine jede Gabe die nötige Empfänglichkeit haben muß, und für alle geistlichen Güter und deren Genuß die Zubereitung des Herzens eine wahre Bedingung ist, ohne welche man sie nicht besitzen kann, so würde uns aller Reichtum des neuen Testamentes und der ganze Schatz von außen her kommender Wohlthaten Gottes nicht nützen, wenn unser Inneres ungeändert bliebe. Deshalb stellt auch der Apostel Paulus in unserm Texte noch vor der Erwähnung des Erbes den schönen sechsten Vers ein, in welchem es heißt: „Weil ihr denn Söhne seid, so sandte Gott den Geist Seines Sohnes aus in unsre Herzen, der da schreiet: Abba, Vater.“ Unsre Erlösung von der Vormundschaft hat also die Aussendung des Geistes zur unmittelbaren und ersten Folge, und der HErr, der ein Geist der Herrlichkeit und Gottes ist, der wirkt zu allererst in uns nicht die Erkenntnis des Erbes, sondern die Erkenntnis des Vaters in dem eingebornen Sohn JEsu Christo. Das Hüllen wird weggethan, die Schulkenntnisse fallen dahin, alles bübische, unreife Wesen wird ausgetilgt, nicht mehr erkennt man den eignen Willen und die freie Selbstbestimmung für das größte und beste, man hat erfahren, wie wenig das hilft und fördert. Nicht mehr setzt man etwas Großes darein, die eignen Wege zu gehen, das Zeichen der Mündigkeit wird im Gegenteil Kindessinn, und es geschieht, was man auch in menschlichen Verhältnissen so oft beobachten kann. Was zeichnet den unmündigen Knaben, wenn nicht der Eigenwille, dem nichts widerwärtiger ist, als Beachtung der väterlichen Meinung und des väterlichen Willens. Was hingegen kennzeichnet den männlichen reifen Sinn und die rechte Mündigkeit? Ganz offenbar das Eingehen in fremde Gedanken, die Achtung vor den Vorfahren und die Nachfolge ihrer Grundsätze. Wenn die verstorbenen Eltern durch Gottes Barmherzigkeit Kunde davon erhalten, in welchem Maße ihre nachgelaßenen Kinder je länger je mehr in ihrem Gehorsam leben und ihnen ähnlich werden, und wie die alten ergrauten Söhne oft stehen und ihre Erinnrung durchsuchen, um auszufinden, was in dem oder jenem Falle der längst heimgegangene Vater gethan oder gesagt hätte, so werden sie gewis erstaunen über die große Aenderung, welche mit ihren Kindern rücksichtlich des Gehorsams vorgegangen ist. Aehnlich ist es auch mit dem Menschen, der in die Schule des heiligen Geistes tritt und nach den Vorbereitungsstufen der Erkenntnis und der Gesetzlichkeit in das Bewußtsein eintritt, daß er ein Kind Gottes sei und Teil an allen Schätzen JEsu Christi habe. Die Weltentsagung ist nun keine Entbehrung mehr, über deren gebotene Notwendigkeit man seufzt und thränet; das Joch JEsu Christi erscheint nicht mehr als ein harter Zwang, die Gebote nicht mehr als eine schwere Last, es hat sich mit einem alles geändert, mit dem Verhältnis zu Gott ist man allewege in andre Verhältnisse gekommen; und weil man zu Gott „Vater“ hat sagen lernen, ist die Last leicht und die Gebote sind nicht schwer. Das aber ist eben die Hauptsache, daß man in’s kindliche Verhältnis zu Gott dem Herzen nach komme, mit Ihm und aller Seiner Führung zufrieden werde, und durch die Macht des Wortes „Abba, Vater“ das Geheimnis aller Wege Gottes kennen lerne. Es ist leicht zu glauben, daß man ein Erbe Gottes und Miterbe JEsu Christi sei, wenn innerlich felsenfest die Ueberzeugung steht, daß man ein Kind Gottes sei, und aus dem Herzen, von den Lippen, als wahrer Lebensodem, der Hauch des Geistes, das süße Gebet: „Abba, Vater,“ weht. So groß und herrlich erscheint dieser Geist der Kindlichkeit und des Gehorsams, der völlig eins ist mit dem Geiste der Mündigkeit, daß alles in Ordnung gekommen zu sein scheint, wenn nur Er vorhanden ist. „Das Pfand, der Geist,“ heißt es einmal in der heiligen Schrift, und wahrlich der Geist ist das Unterpfand alles Erbes. Auch steht es geschrieben: „Wo der Geist des HErrn ist, da ist Freiheit,“ und in der That so ist es, wo der Geist des HErrn ist, da ist kein Zwang mehr, keine Sklaverei, keine Büberei noch Mündelschaft, sondern da ist ein freies, freiwilliges, freudiges, seliges Eingehen in alle Absicht des Vaters und in alle Seine Wege. Und während man dem Vater gegenüber wieder ein Kind geworden ist,

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 059. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/66&oldid=- (Version vom 1.8.2018)