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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

machen, wenn er z. B. in der heutigen Epistel liest: „So lange der Erbe unmündig ist, unterscheidet er sich in nichts von einem Sklaven seines Vaterhauses, obschon er ein HErr ist aller Güter, sondern er ist unter die Verwalter und Haushalter gegeben, bis zum Eintritt der vom Vater festgesetzten Frist der Mündigkeit.“ Der Erbe ist hier keineswegs Christus, sondern wir sind gemeint. Dennoch aber sieht man sich schier gezwungen, an den in der Krippe liegenden unmündigen Erben eines ewigen Königreichs zu denken und unter den Pflegern und Haushaltern den guten Nährvater Joseph und allenfalls auch die selige Gottesmutter zu verstehen. Es liegt an diesen Beziehungen nichts; man kann sie auch nur aufnehmen, um sie alsbald wieder fallen zu laßen; wir haben auch viel nötiger auf den eigentlichen Sinn der Epistel einzugehen und wollen es ja auch getreu dem Texte. Doch aber schienen sie mir süß und nahe liegend, und als wären sie von denen, die in grauer Vorzeit das Meisterwerk der Textwahl vollzogen, fast beabsichtigt.

 Nach diesem Eingang, meine lieben Brüder, will ich kürzer bei dem ersten Teil des Textes, das ist bei der Darstellung der Unmündigkeit, verweilen, dann den zweiten Teil vorlegen, nämlich unsre Befreiung aus der Vormundschaft und unsre Einsetzung in die Kindschaft; endlich aber will ich euch die Kindschaft selbst vorlegen, nach allem, was der Text darüber enthält.

 Was St. Paulus von dem Leben unter der Vormundschaft sagt, schließt sich eng an die Sitten des Altertums an. Der Erbe des größten Vermögens war während der Vormundschaft den Verwaltern und Haushaltern unterthänig, wie jeder Sklave, der zu seinem eigenen Besitz gehörte. Ueber seine Ländereien und Güter war der Verwalter oder Pfleger gesetzt, über das Haus und die Bedürfnisse der Familie der Haushalter. Beide waren meistens Sklaven, die sich vermöge ihrer Gaben und Bildung und Redlichkeit für solche Posten und Geschäfte eigneten. Da war der HErr seinen Sklaven unterthänig, hatte auch nicht das mindeste Recht, seines Eigentums zu walten, war auf allen Schritten und Tritten beaufsichtigt, ohne daß irgend wer von ihm selbst Aufsicht und Einsprache annahm. Und das dauerte an, bis die Zeit der Mündigkeit herbeikam, deren Eintritt entweder durch die Gesetze des Landes oder durch väterlichen Willen bestimmt war. Während dieser Zeit der Unmündigkeit durfte sich der heranwachsende Jüngling auch nicht beschäftigen wie er wollte; er mußte sich an die ihm vorgeschriebenen Schulgegenstände und Uebungen halten und durfte über diesen engen Kreiß des Lernens, Uebens und Lebens durchaus nicht hinausgehen. Dieser enge Kreiß der Beschäftigung und des Lernens hat einen eigenen Namen, der auch in unsrer Epistel vorkommt, von Luther aber nicht nach dem Wortlaute, sondern nach dem Sinne übersetzt wurde, welchen er dem Ausdruck nach dem Zusammenhang unsers Textes mit Recht glaubte unterlegen zu dürfen. Er übersetzt: „Wir waren als unmündige Kinder gefangen unter den äußerlichen Satzungen.“ Näher am Texte aber heißt es: Wir waren wie Sklaven an ihre Aufgabe, so an die Elemente der Welt gehalten, – an die Elemente oder an die Elementarkenntnisse und Anfangsgründe der Welt.

 Dieser Zustand der alten Unmündigkeit wird nun von dem Apostel gleichnisweise auf das Leben angewendet, welches die Juden und auch die Heiden vor der Erscheinung des HErrn JEsu Christi im Fleische führten. Die Juden waren Erben eines großen HErrn, des HErrn der Herrlichkeit, und der Apostel bezeugt es an einem andern Ort ausdrücklich, daß ihnen die Verheißungen des alten Testamentes zunächst gehörten; auch nennt sie Christus selber die Kinder, denen das Reich und das Brot gehöre. Aber ob sie wol die Herren aller Güter waren, so waren sie es doch nur in Hoffnung, in den Besitz eingetreten waren sie noch nicht. Dazu mußte erst die Fülle der Zeit und die vom Vater festgesetzte Frist kommen. Bis dahin war ihnen zwar alles beigelegt und gehörig, auch alles wol verwaltet und aufgehoben, aber nicht ausgeantwortet, und wie bei den Mündeln der alten Zeit war ihre Beschäftigung und ihre Erkenntnis im Vergleich mit dem, was kommen sollte, nur mit dem Namen von Elementarkenntnissen der Welt, von allgemeinen Anfangsgründen zu belegen. Das gaben nun allerdings die Juden in der Fülle der Zeit, da Christus JEsus erschien, durchaus nicht zu. Wer wie dieser Apostel Paulus zu ihnen gesagt hätte, daß alles was sie wüßten, im Vergleiche der Erkenntnis Gottes in Christo JEsu, nur dürftige äußerliche Satzungen,

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 053. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/60&oldid=- (Version vom 1.8.2018)