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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

ja das allgemein zugibt: so sind wohl auch die Brautjungfern nicht einzelne Menschen. Bei diesen meinen Worten wird es dir aber gehen wie auch mir selbst. Die Braut: das ist die Kirche, die Braut des HErrn. Wenn aber die Braut die Kirche ist, was sollen dann die Jungfrauen sein? Sie waren doch ursprünglich alle ausgegangen, um zur ewigen Freude mit der Braut einzugehen, also um selig zu werden. Wenn nun die Jungfrauen doch mit der Braut selig werden, so scheint es ja, als wenn außer der Kirche auch andere Gemeinschaften selig würden; als wenn die Kirche verwandte Genoßenschaften außerhalb ihrer hätte, die, wenn sie thäten was nöthig, wenn sie Oel bewahrten, auch alle selig werden, mit der Braut zum ewigen Freudenmahle eingehen könnten! Das aber widerspräche der heiligen Lehre, das kann nicht sein. Es muß also anders sein; aber wie? Entweder müßte man sagen, es sei eben hier, als in einem Gleichnis, von der Braut und ihren etwaigen Brautjungfern ganz abgesehen, und unter den Brautjungfern der allgemeine Gedanke vorgestellt, welcher sich unter dem Bilde der Braut nicht hätte vorstellen laßen, weil ja in der Braut keine Theilung, wie bei den Jungfrauen in kluge und thörichte, dargestellt werden könnte. Oder man müßte sagen: es sei allerdings von der Braut die Rede, wenn von dem Bräutigam und Hochzeit und Brautjungfern die Rede sei, und es müße eben hier ein Unterschied innerhalb der Kirche selbst angedeutet werden. Eine Abtheilung der Kirche müße hier die erwählte Braut sein, die andern Abteilungen seien auch zur Seligkeit berufen, aber es solle vorgestellt werden, daß eben nicht alle, sondern nur einige Abtheilungen mit der auserwählten Braut selig werden würden; andere brächten sich durch Läßigkeit um ihr ewiges Heil. Vor dem Gedanken könnten diejenigen zurückschaudern, welche unter denen, die selig werden, keinen Unterschied annehmen wollen. Allein die Schrift ist eben des Gedankens voll, daß es unter denen, die Einen Glauben und Eine Seligkeit allein aus Gnaden haben, doch noch viele Unterschiede in Zeit und Ewigkeit gebe. Wer, der nicht nach vorgefaßten Meinungen urtheilt, könnte das leugnen? Es könnte deshalb immerhin Eine Gemeinschaft unter den Christen in einem gewissen Sinne als Braut dargestellt werden, während in einem andern Sinne alle Gläubigen miteinander die Braut des HErrn ausmachen. Es könnte ja die Braut die letzte selige, heilige Kirche aus Israel sein, deren Herrlichkeit in den Propheten des Alten und Neuen Testamentes mit so glänzenden Farben gemalt ist, – und die Brautjungfrauen könnten Kirchen, Gemeinden, christliche Gemeinschaften aus den Heiden sein. Da würden die Heidenkirchen die Kirche aus Israel, die endlich neugewonnene, dem ewigen Bräutigam zuführen, und theilweise mit ihr ewig selig werden. Du wirst sagen: ist das also die Deutung, welche du von den Jungfrauen gibst? Hältst du das für die richtige, die einzig richtige Erklärung? Meine Antwort ist: einen Deutungsversuch habe ich dir gegeben. Deutungen muß man vorsichtig geben. Etliches ist in der Schrift allen, etliches niemand klar; dazwischen liegt vieles, was der Deutung fähig ist. Dem Schriftausleger ziemt Bescheidenheit; – bescheidentlich aber darf ich meine Deutung wohl auch gegenüber dem aufbrausenden Stolze etlicher Heidenchristen äußern und sie dem Urtheil und Gerichte derer auch unter uns Heidenchristen unterstellen, denen weit über aller Heiden Hochmuth hinaus das göttliche Wort groß und hehr und werth steht.

 Versuchte ich eine Deutung, so bin ich deshalb nicht der Meinung, daß du, mein Leser, unrecht handelst, wenn du darnach strebst, dir die Klugheit der klugen Jungfrauen zu erbitten. Denn das Wort „wachet“ gilt uns allen, auch wenn das „dann“ des ersten Verses und die nächste Deutung desselben und des Gleichnisses auf eine andere Zeit geht als die unsere. Wache, werde den klugen Jungfrauen gleich! Sei an deinem Theil eine kluge Jungfrau. Wenn ein jeder an seinem Theile eine kluge Jungfrau ist, wird es weder an der Braut noch an den Brautjungfrauen fehlen, wenn der Bräutigam kommt. Also wachet! – HErr JEsu! Amen.




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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 211. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/587&oldid=- (Version vom 1.8.2018)