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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

und keinen Blick bekommen, wie Du ihn Petro zusandtest, da er an Dir sich versündigt hatte? Hätte ich etwa dann von Deiner Seligkeit Abschied zu nehmen, während ich in ihre Fülle schaute, gleichwie ich hier meinen Tagen den Abschied gegeben hätte, ohne erreicht zu haben, was ich erreichen sollte! – HErr! HErr! aus der Tiefe einer reumüthigen Seele kommt meine Anrufung! Vernimm sie! Laß mich Deine verzeihende Liebe genießen, daß ich erleuchtete Augen bekomme, Dich überall zu schauen, wo Du bist, und Dir zu dienen in den Deinen! Sättige mich mit Deiner Liebe! Deine Liebe sei meine Speise, daß meine Natur dadurch erneut werde, daß ich liebreich und liebethätig werde, daß ich, wie ein Schaf den Fußstapfen der Hirten, so Deinem barmherzigen Wege folge! Noch ist es Zeit, wenn auch schon hohe Zeit! HErr, stelle mich in dieser meiner Zeit zu Deinen Schafen, als ein Schaf unter Deine Schafe, so werde ich in ihren Schaaren auch dann sein, wenn Du kommen wirst!


Hilf, daß, wo Du stellest hin
Deine Schäflein, ich auch bin!
Reiß mich ferne von den Böcken,
Die ein strenger Spruch wird schrecken!
Laß mich zu der Rechten stehn,
Und zur Herrlichkeit eingehn.

Wenn Du wirst in Deinem Grimm
Durch des strengen Urtheils Stimm
Zu der Höllen Pfuhl und Flammen
Die verfluchte Schaar verdammen,
Sprich mir, wie den Frommen, zu:
Komm, Gesegneter, auch du!

Daß ich in des Himmels Saal
Unter Deiner Heil’gen Zahl,
Die Du Selber ausgesöhnet
Und mit Unschuld hast gekrönet,
Freudenvoll, ohn’ einig Leid
Leb in alle Ewigkeit!
 Amen.


Am siebenundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.[1]
Matth. 25, 1–13.

 WEr sind die Jungfrauen, von welchen die Rede ist? Ist wirklich von Jungfrauen die Rede, oder hat man Ursache zu deuten? Man muß sich vor Deutungen hüten, wo sie nicht hingehören; aber buchstäbliche Auffaßung, wo Deutung nöthig ist, kann nicht weniger schädlich werden als unnöthige Deutelei. Also wer sind die Jungfrauen? – Lies den ersten Vers des Textes. Er beginnt mit den Worten: „Dann wird das Königreich der Himmel zehen Jungfrauen gleich sein.“ Also haben wir ein Gleichnis vor uns, welches auf die aller letzte Zeit, auf die Zeit der letzten Zukunft Christi hinweist. In einem Gleichnis aber ist es ganz in der Ordnung zu deuten. Es ist also nicht von Jungfrauen die Rede, sondern unter dem Bilde der Jungfrauen – von was denn? Von Menschen ohne Zweifel; denn es kann schnell ein jeder Leser erkennen, daß in dem ganzen Gleichnis das allgemeine Thema ist, daß nicht alle werden selig werden. Von Erben der Seligkeit, also von Menschen, welche die Seligkeit finden, aber auch verlieren können, ist gewis die Rede. Aber es könnte unter dem Bilde der klugen und thörichten Jungfrauen möglicherweise auch nicht von einzelnen Menschen, sondern von ganzen Menschenklassen und Gemeinschaften die Rede sein. Die Jungfrauen sind Brautjungfrauen, welche dem Bräutigam seine Braut zuführen. Ist nun die Braut nicht ein einzelner Mensch, wie man


  1. „Zugabe, 1858.“
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 210. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/586&oldid=- (Version vom 1.8.2018)