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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

im Leben und im Sterben und im jüngsten Gericht. Jeder darf kommen zu Seinem ewigen Mahle, ER fragt am Ende nicht: woher kommst du? wer und was bist du gewesen? ER sieht allein, ob du mit dem Glauben Seine Gnade zur Decke nimmst und an ihr, wie ER Selber, genug habest. Das laß uns nicht vergeßen, lieber Leser. Das laß uns bedenken, so wird es uns nicht wie Unsinn, sondern wie heimliche Weisheit klingen, wenn wir den Gesang der Väter hören:

Dein Kreuz laß sein mein Wanderstab,
Mein Ruh und Rast Dein heiligs Grab;
Die reinen Grabetücher Dein
Laß meine Sterbekleider sein!

oder wenn unsere Kinder beten:

Christi Blut und Gerechtigkeit
Das ist mein Schmuck und Ehrenkleid,
Darin will ich vor Gott bestehn.
Wenn ich in Himmel werd eingehn.


Am einundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis.
Joh. 4, 47–54.

 DEr HErr bewies bei Seinen Heilungen mancherlei Gnade. Bei einigen legte ER, um die Heilung zu bewirken, nicht bloß Hand an, sondern Er brauchte allerlei, auch sehr gering scheinende Mittel zu Trägern Seiner Hilfe, – bei andern legte ER bloß Hand auf, – bei andern sprach ER ein Wort zum Kranken, so genaß er, öfters sprach ER auch nur ein Wort vom Kranken, der abwesend war, so erfolgte die Heilung. Der letztere Fall gehört zu unserer Textgeschichte. Der Sohn des Königischen lag in Kapernaum. Das Wort JEsu war auf dem Wege von Judäa nach Galiläa gesprochen, und der Kranke genaß trotz der Entfernung. – Drum sei, mein Freund, nicht eigensinnig in deinen Gebeten und schreibe niemals Art und Weise der Hülfe vor. Setz deine Hoffnung nicht auf die Art und Weise, wie deinem Nachbar geholfen wurde; sondern bete und hoffe und harre. Der kranke Sohn zu Kapernaum war dir in deinen Nöthen ganz gleich. Der Helfer war nicht vor seinen Augen, wie ER nicht vor deinen Augen ist; wenn ER aber, der Allmächtige nicht da ist, so ist es gleich viel, ob ER im Himmel oder auf dem Wege nach Galiläa sichtbar verweilt: ER ist dir verborgen – und du bist Ihm nicht verborgen; du weißt nicht, was ER thun will, aber ER weiß es ganz gut; du hörst Sein Machtwort nicht, aber du wirst es erfahren. Wie nun der Kranke zu Kapernaum hoffend in die dunkle Zukunft sah und nicht wußte, wie und in welcherlei Gestalt die Hülfe erscheinen werde, so sieh auch du, wie ein Wächter auf der Warte, hinaus in deine Zukunft und freue dich Deßen, der da kommt sanftmüthig und hilfreich, ein König. ER wird ja noch endlich kommen und nicht außen bleiben; ob ER verzeucht, so harre Sein, ER wird gewislich kommen und nicht verziehen. Siehe, wer halsstarrig ist, wird keine Ruhe in seinem Herzen haben; denn der Gerechte lebt seines Glaubens.

 Noch eins laß mich von diesem Evangelium sagen. Der Königische hat eine Eigenschaft, welche ihn dem kananäischen Weiblein einigermaßen ähnlich macht, – weißt du, was für eine? ER ist so sehnsüchtig nach Hilfe und so gläubig an JEsu Macht, daß er sich durch das anfangs ungünstige Wort von Zeichen und Wundern nicht irren läßt. – ER betet um Hilfe und achtet des Scheltens nicht. ER ist von starkem Glauben, der ferner keines Zeichens und Wunders, als des einen, um das er bittet, bedarf, um felsenfest zu stehen, – der ganz in JEsum und Seine Worte traut. So war auch das kananäische Weib. Aber doch ist das kananäische Weib von diesem Königischen verschieden bei gleicher Tugend, wie ein Weib von einem Manne verschieden ist. Sie ist reich an Worten, sie ist reich an Witz, sie disputirt mit dem HErrn und beweist damit festen Glauben. Der Königische thut von dem allen, nichts, er will nicht disputiren, er will den HErrn weder gnädig noch ungnädig im Gespräche sehen: „HErr komm hinab, ehe denn mein Kind stirbt“ – das ist alles, was er sagt. Er dringt mit seinem Beten zu JEsu Herzen und glaubt ihm keine Ungnade, aber die Gnade glaubt er Ihm, auch da sie nicht ist, wie er dachte,

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 205. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/581&oldid=- (Version vom 1.8.2018)