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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

der Kinder Gottes untereinander. Gleichwie aber Brüder irdischer Art dadurch in Liebe zusammengehalten werden, daß sie von Einem Vater abstammen; so ist die himmlische Brüderschaft durch das lebendige, fröhliche Bewußtsein, in Christo Gottes Kinder zu sein, gegründet. Wer Christum nicht gesehen, nicht gehört hat (Vers 23.), der ist viel weniger durch Ihn zum Vater und also zur Kindschaft und Bruderschaft gekommen; denn niemand kommt zum Vater, denn durch Ihn. So wir aber durch Ihn zu einem unsterblichen Vater und zu unsterblichen Brüdern gekommen sind; so leben wir in der Liebe, von welcher der Pharisäer recht geantwortet hat (Vers 28.), so stellen wir dann auch nicht mehr die Frage: „Wer ist mein Nächster?“ sondern wir fragen nach JEsu Sinn: „Wem bin ich der Nächste?“ oder wir beantworten die erstere Frage im Sinne der zweiten: „Der ist mein Nächster, dem ich am nächsten bin, der mein bedarf.“ Ach, wie viele liegen im Thränenthal, geschlagen von Mördern einfach und doppelt! Sieh die Unglücklichen, die leiblich geschlagen sind an Gut und Leib, die Armen und die Kranken: wie viele Augen sehen dich an, darum, daß du der nächste bist. Doch, denen hilft man gerne, die sind nur einfach, nur leiblich und im Zeitlichen geschlagen. Es sind dies die sichtbaren Nächsten, wenn man sie so nennen darf, weil ihr Elend und ihr Anspruch auf uns augenfällig ist. Aber es gibt noch andere einfach Geschlagene, sie sind unsichtbar, denn ihr Elend entzieht sich den Augen, daß sie dabei glücklich und fröhlich sein können. Ach, daß unsre Augen geöffnet würden, daß wir Mitleid lernten, wenn wir das weite, große Thränenthal, die zahllosen Geschlagenen und ihre zahllosen Wunden sähen! Wir würden rufen: „Ach, daß ich Waßers genug hätte und meine Augen Thränenquellen wären!“ Aber, so ist des Thränenthals jammervollster Anblick vor unsern Augen verborgen! – Dazu gibt es doppelt Geschlagene, – und sind ihrer denn nicht die meisten? Ja die meisten, obgleich es nicht scheinet. Es sind die Armen, die Kranken am Leibe, die durch die Mißethat ihrer Sünde also entstellt sind, von denen die Welt spricht, wie Gott von allen: „Das ist ihrer Sünde Schuld, daß sie so gestäupet werden!“ Die für Nächste zu erkennen, dringt das gedoppelte Elend und die doppelte Bedürftigkeit, – und der Welt Unbarmherzigkeit. Ach, diese sind von den Ihrigen, von den Kindern der Welt verlaßen, denn sie zeigens öffentlich, wie es in der Welt aussieht. Nach ihnen, nach ihnen strecke mit mir, mein Bruder, die Hand aus und laß uns derjenigen Nächster sein, die keinen Nächsten haben! Ach, es ist traurig, daß wir für diese Ermahnung so wenig Gehör finden! Es gibt so viele, die da sündigen, weil sie die Noth treibt, – so viele die in Noth sind, weil sie sündigen. Denk an die Huren, die um Brod sich zum ewigen Scheiterhaufen das Holz tragen! Wie viel in Städten, wie viele auf dem Lande sind ihrer! Schreit denn jedermann: „Hilf denen nicht, sie verdienens nicht!“ Will denn niemand barmherzig sein! Gibts denn bloß jenseits der heiligen Kirche barmherzige Samariter, barmherzige Brüder, Schwestern? Sollen wirs nicht alle sein? Sind wir denn nicht alle dem Orden vom guten Hirten zugehörig? Großer Gott, warum schämen wir uns zu helfen, die wir allein auf Gnade und Glauben, nicht auf Verdienst der Werke das Heil gründen?! Können denn allein die Werkrer gute Werke wirken? Brüder, Schwestern, seid am Sonntag des barmherzigen Samariters gebeten, beschworen, nicht unbarmherziger als der barmherzige Samariter zu sein, sondern barmherzig, wie JEsus, der uns alle aus tiefem Schlamm zu Seiner Reinigung zog, der Sich nicht scheut vor unserm Schmutze, sondern uns mit Seinem Blute reinigt! –


Am vierzehnten Sonntage nach Trinitatis.
Luc. 17, 11–19.

 ERlaube mir, geliebter Leser, dir zu diesem Evangelio einige kurze Erinnerungen zu stellen.

 1. Der HErr ist auf der Reise gen Jerusalem  – zum Tode. Von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorfe reist Er Seinem Todeshügel zu, ein Gedanke bewegt Seine Seele, Er vergißt ihn nicht, wird sein nicht satt, verliert durch ihn weder an Ruhe, noch an Heiterkeit: „Siehe, ich komme, zu thun

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 198. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/574&oldid=- (Version vom 1.8.2018)