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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Narr, als wenn er anfängt zu predigen! Ein Schauer fährt über mein Gebein bei dem Gedanken, daß solcher armer, koketter Narren viele sind im menschlichen Geschlechte, daß in jeder Brust der alte Adam, wie der Pharisäer im Tempel, steht und seines Falls vergeßend, das eitle Possenspiel vom Pharisäer aufführt.

 Es ist höher am Tage in der Welt. Wir sind ja im neuen Bunde. Eine beßere Gerechtigkeit ist uns kund gethan, als die der Pharisäer, – eine inwendige Herrlichkeit des verborgenen Menschen ist uns geoffenbart: die Demuth und die Hoheit, die Armuth und der Reichtum, die Einfalt und die Weisheit, ungefärbtes, ungefälschtes Wesen und Schlangenklugheit, Schwachheit und Kraft vereinigt! – Und denke: auch mit dieser Herrlichkeit kann man kokettiren, auch mit ihr liebäugeln, auch auf sie eingebildet sein, andere verachten und mit Stolz zu Gott aufblicken wie ein erstgeborner Sohn. Sie rühmen sich demüthig zu sein, da sies nicht sind etc. Hast dus nie vernommen, das Wort, das aus den Wolken fallen macht, das wie mit einem gewaltigen Blitze die ganze verrückte Bosheit des Menschen offenbart, das Wort des Bauers und Königs: „Ich bin gewis demüthig, aber“ etc.? O Du, der Du so wohlthuend unsern Seelen zusprichst: „Ich bin sanftmütig und von Herzen demüthig“, der Du so sagen durftest und keiner mehr, welche Pharisäer sind in Deinen Tempeln! Laß mich doch den Zöllner sein!

 Ein Zöllner, ein Sünder, – ein Armer, nicht in bettelstolzen Lumpen mit dem Brodsack, nein ein nackter, hungriger, zerknirschter Mensch steht vor Dir, welchem die Betrachtung seiner Seele alle Sprache raubt, daß ihm nur fünf Worte noch übrig bleiben: „Gott sei mir Sünder gnädig!“ Der vergleicht sich mit keinem mehr, er steht vor Gott, und das Auge Gottes in seiner Seele, das vom Geist erleuchtete Gewißen, spiegelt ihm Gottes Herrlichkeit und seine eigne Häßlichkeit im vernichtenden Contraste ab! Ach er wagt nicht aufzuschauen, er schämt sich vor Gott! Er sagt nicht, was er alles gesündigt hat, aber er schlägt an seine Brust, er weist auf sein Gewißen und hält sich göttlicher Schläge werth. So schlug schwerlich je ein Priester beim Beginn der Messe an die Brust; so beredt sprach kein Priester sein lautes mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa,[1] wie dieser schweigende Büßer, der gerne in den Erdboden, nicht bloß an ihn hin gesunken wäre. – Wie schön bist du, o Tod, Tod des alten Menschen, – wie innig, wie wahr, wie groß ist dein Schmerz! Du bist des Lebens Vorbote, oder soll ich dich den Schatten des schon vorhandenen neuen Lebens nennen, oder lieber den Anfang des neuen Lebens selbst? – HErr JEsu, wer so stirbt, der lebt, – wer so sich erniedrigt, der wird erhöhet, der ist ein Kind und eine Werkstatt des Heiligen Geistes, in ihm ist mehr wahre Gerechtigkeit, als in allen stolzen Pharisäern. – HErr, darum laß mich der Zöllner sein!


Am zwölften Sonntage nach Trinitatis.
Marc. 7, 31–37.

 TAub und stumm sein, zwei correspondirende Uebel, deren jedes allein schon genug ist, einen Menschen unglücklich zu machen. Beide zusammengenommen sind sie ein größeres Unglück, als jedes andere. Wie einsam ist der Taubstumme in der Welt, die lieblichsten, geistigsten Verbindungsmittel zwischen ihm und andern fehlen ihm. Der Laut ist der Seelen und alles Lebens wunderbarstes, verständlichstes Zeugnis. Was ist dir ein Vogel ohne Gesang, – ja, was ist dir ein Thier ohne Schrei! – – Und was stumm ist in der Welt, ists nicht, als würde es dir näher gerückt, wenn ihm, seis auch nur durch Gewalt, ein Laut entrißen wird. Der Baum im Winde, das Waßer im Fall der Tropfen – sie sind uns näher, als der Wald, wenn er im heißen Mittag schweiget, und der Teich, wenn er stumm des Himmels Bild abspiegelt. Nichts in der Welt, auch nicht der Geruch, dieser erinnerungs- und ahnungsvolle Sinn und Hauch, ist uns verwandt wie der Laut. Ach, wo es lautet, da lebt es, – und ein Paradies ist unheimlich, wo kein Ohr und keine Zunge nützt. – Und nun der Taubstumme, er ist überall in stummer Wüste,


  1. „Meine Sünde, meine Sünde, meine große, große Sünde!“
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 196. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/572&oldid=- (Version vom 1.8.2018)