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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 Ja mehr noch! Er nimmt nicht bloß die Sünder an, Er sucht sie, Er ruft sie, Er bittet, Er nöthigt sie, selig zu werden! Ich darf nicht sagen: „Wie ein Hirte ein verlorenes Schaf, ein Weib den verlorenen Groschen, so sucht Er die Seinen!“ Das wäre zu wenig aus dem Evangelio genommen. Ich muß sagen: „Was ist ein Schaf, ein Groschen gegen eine Menschenseele, welche nach Seinem Bilde gemacht ist! So viel mehr ein Mensch werth ist, als ein Schaf, ein Groschen, so viel ernstlicher und eifriger sucht ER die Seelen. Es ist kein Hirte, kein Schäfer, dem so viel an einem Schafe, kein Weib, auch nicht das ärmste, dem so viel an einem verlorenen Groschen liegen könnte, als Ihm an dir liegt, verlorene, sündenbeladene Seele!“ Ja, wir dürfen noch mehr sagen. Welches Kind ist einer Mutter am liebsten? Ich meine, das, welches gerade nicht da ist. So ists dem HErrn – Ihm ist der am liebsten, welchen Er noch nicht wieder gefunden hat. Ja, wenn ein Weib ihres abwesenden Kindes vergäße, Er vergißt verlorene Schafe nicht. Denn ein Weib kann nur unvollkommen lieben, Er aber liebt vollkommen, darum kann Er die Seinen nicht vergeßen! Die Seinen, denn Sein sind sie ja doch, erkauft, erlöst, erworben, gewonnen hat Er sie doch, auch wenn sie vor Ihm fliehen! – Er ist so liebreich, und die Welt, ach, oft auch die fromme Welt, so lieblos! Weil nur Er liebreich ist, weil nur Er nicht nach Pharlsäermaßen, sondern nach Gottes Maßen liebt! Das ist, lieber Leser, so tröstlich, auch für dich – und alle armen Schächer!


Am vierten Sonntage nach Trinitatis.
Luc. 6, 36-42.

 DIeses ganze Evangelium athmet nur einen einzigen Gedanken: „Barmherzigkeit thut noth!“ So wahr, als dieser Gedanke, ist alles, was in dem Evangelium enthalten ist; wo dieses Gedankens Grenzen sind, da sind aller einzelnen Gedanken Grenzen. Richtet nicht – nämlich, wenn Richten unbarmherzig wäre! Verdammet nicht, nämlich, soweit es die Barmherzigkeit verlangt! Vergebet, – nämlich, so weit es barmherzig ist und keine andere der göttlichen Eigenschaften beleidigt. Denn eine muß mit der andern in Harmonie sein! – Eben so heißt es: „Gebet“ – nämlich, so weit es barmherzig ist. – Gar wohl ist deswegen ein Beisatz bei dem „Seid barmherzig“; denn es heißt: „Seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist!“ Nicht eine menschliche, fleischliche, einseitige Barmherzigkeit sollst du üben, sondern göttliche Barmherzigkeit, als Gottes Kind, als Seines Geschlechts theilhaftig.

 Ach, es ist so schwer, die äußern Werke eines Menschen im Zusammenhang mit ihren Gründen und Anfängen zu erkennen! Nur bei offenbar groben Sünden ist es eine geringere Aufgabe, des Heilands Anweisung zu befolgen: „An den Früchten sollt ihr sie erkennen!“ Ja, auch da ist es oft schwer, weil die Schwachheitssünde gar oft der Bosheitssünde, der Fall dem Abfall täuschend ähnlich sieht. Und nun erst bei bloß räthselhaftem, ungewöhnlichem Benehmen, wie schwer ist da unterscheiden! Der Lebenslauf eines Menschen ist oft so wunderlich, daß nicht mit oberflächlichem Betrachten der Außenseite ein treues Urtheil zu gewinnen ist. Das Werk der Heiligung ist ein Räthsel und Wunderwerk des heiligen Geistes: hier ist kein Stück aus einem Guß vor Augen gestellt, es sind lauter einzelne Fälle, – ein heiliger Takt, so zu sagen, des ewigen, allweisen Seelsorgers waltet da. Darum sei langsam zum Reden, – erkenne deine Schwachheit, – – merke, daß selten ein Mensch im Leben fünf oder zehen Menschen so kennen lerne, daß er nur durch Wahrscheinlichkeitsgründe beweisen könnte, wohin – ob rechts, ob links vom HErrn seine Stelle sei. Sei langsam zum Richten. Aber hast du Beruf,“ hast du Licht beim Berufe, dann richte ein recht Gericht im Namen und durch Kraft des Seelsorgers im Himmel, – ja kraft Seiner Worte: „Seid barmherzig“!

 Verdammet nicht“! Es ist zum Erstaunen, wie man sich oft so lieb hat, wie man andere so einseitig beurtheilt, wie man aus einzelnen Sünden auf den ganzen Seelenzustand der Menschen und auf das Urtheil Gottes im Himmel so leichtlich schließt. Ach, oft gerade die, welche am meisten dem Guten nachzujagen scheinen, sind im Verdammen so unbarmherzig!

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 189. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/565&oldid=- (Version vom 1.8.2018)