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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Am zweiten Sonntage nach Trinitatis.
Luc. 14, 16–24.

 DAs Abendmahl ist die durch Christum vollendete Erlösung, durch welche Leben und volle Genüge allen Menschen bereitet ist. Christi Reichtum und Verdienst ist für die Seele, was für den Leib ein Mahl ist. Ein großes Mahl ist es, weil es für viele bereitet ist. Die Vollgenugsamkeit des Verdienstes Christi wird durch das große Abendmahl angedeutet. – Die Stunde des Abendmahls ist die sonst sogenannte letzte Stunde, welche von dem Kommen Christi bis zu Seiner Wiederkunft dauert. So lange ist der Menschheit Frist gegeben, zum Mahle zu kommen. – Die Geladenen sind die Juden, denen die Verheißungen gegeben sind, nach dem Zusammenhange jedoch hier hauptsächlich die Obersten der Juden, – die Priester und andere Herrlichen, welche die Einladung, wie die Verheißungen, am leichtesten hätten faßen sollen. – Der Knecht ist Christus und das von Ihm eingesetzte Lehramt, zu deßen Teilhabern gesagt wird: „Siehe, Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende!“ – Des Knechtes Stimme: „Kommet!“ schließt alles ein, was die Heilsordnung in sich begreift, von der Bekehrung bis zur Vollendung, den Glauben und alle seine Werke. – Bis hieher ist alles klar und man faßt es ohne Anstoß. Aber nun die Entschuldigungen, sie erregen unwilliges Erstaunen. Woher sind sie genommen? Von Beruf und Familienleben. Wie können denn diese zur Entschuldigung dienen? Sie sind ja gerade Erleichterungsmittel für diejenigen, welche gerne in die Heilsordnung treten und also durch die zeitlichen Güter wandern möchten, daß sie die ewigen nicht verlieren! Darin eben liegt die Schuld, daß sie nicht bloß nicht kommen, also die Mahlzeit nicht schätzen, sondern überdies gerade das zur Ausrede nehmen, was sie fördern konnte. – Wie kommen sie aber zu dieser verkehrten Entschuldigung? Hindert sie denn Beruf und Familienleben wirklich? Ja allerdings, aber nur dadurch, daß sie Beruf- und Familienleben, die nur Mittel zum Zweck sind, zum Zweck selber machen. So wie man aber Gnadenmittel zu Zwecken umwandelt, werden sie einem zum Verderben, wie die Wüste den Kindern Israel, – wie die Sündfluth, welche Noah zum Heile trug, den übrigen Menschen zum Untergang diente, – wie ein Gasthaus den vernünftigen Wanderer erquickt und zur Reise tüchtig macht, aber von dem unvernünftigen zur Niederlage und zum Aufenthalt gemacht wird. Drum hüte dich, mein Freund, vor diesem Misbrauch der Gnadenmittel und erkenne, daß Ehe und Beruf entweder dich mächtig fördern müßen, oder du gehst in ihnen und durch sie unter.

 Ueber die Geladenen und nicht Erscheinenden entbrennt ein großer Zorn, Vers 21. Aber eben dieser Zorn im Herzen Gottes verursacht eine desto reichere Gnadenströmung über die andern armen Juden, welche Vers 21 genannt und als geistlich und leiblich Arme zugleich dargestellt werden, als solche, denen leibliches Elend die Sehnsucht nach leiblicher und geistlicher Genüge erweckt hat. Ein heiliger Zorn, der die Liebe desto mehr erregt, der dem Engel gleicht, von welchem Bethesda’s stille Waßer zum Genesungsbade der Krüppel und Lahmen umgewandelt werden! Wer läßt uns arme Heiden mit hinein in dies gnadenreiche Waßer, in diese Fülle geistiger Genüge bei JEsu Mahlzeit? Geduld! Auch nachdem die Lahmen, Krüppel, Blinden der Stadt versammelt sind, ist noch Raum für die auf Landstraßen und Zäunen, welche außer der Bürgerschaft Jerusalems in der Heiden Landen wohnen. Und merke, die Heiden werden zum Kommen genöthigt. Zu einer geistlichen Mahlzeit kann freilich nicht durch äußere Mittel der Gewalt gezwungen werden! Seelen erdulden nichts Leibliches! Die Nöthigung geschieht durchs Wort, wie es der Heidenapostel Paulus predigt, durch die angelegentliche, dringende Darstellung der Gnade Gottes in Christo JEsu, durch die treue, immer neue Wiederholung desselben. Das nöthigt! Glaubst dus nicht, so hast dus nicht erfahren! Freund, das nöthigt! Wen das nicht nöthigt, den nöthigt nichts mehr, der geht an Hecken und Zäunen durch Straßenübel unter. – Durch dies Nöthigen werden alle Tische voll. Der HErr hat Seine Tische nicht umsonst gestellt. Er hat aber auch nicht so viele auserwählt, als Er Raum gemacht hat, sondern Er hat so viel Raum gemacht, als Er Auserwählte

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 187. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/563&oldid=- (Version vom 1.8.2018)