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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

meinst du, das „tüchtig machen“ gehe nicht auf die Heiligung, zuletzt deuten die Worte „Vergebung der Sünden“ mehr auf die Rechtfertigung als auf die Erlösung hin. Wenn du so reden würdest, würde ich dir, wie ich in solchen Fällen, in welchen es sich um Deutung deutungsfähiger Sprüche handelt, immer thue, nicht widerstreben, mich in keinen Streit einlaßen. Aber meinen Sinn und Verständnis glaube ich, dir vorlegen zu sollen. Daß ein Gang von oben nach unten, von der Heiligung zur Erlösung abwärts in unserm Texte sich finden läßt, wirst du vielleicht im Allgemeinen nicht leugnen. Da scheint mir denn fürs Erste der Ausdruck „Vergebung der Sünden“ in der Verbindung mit dem Ausdruck Erlösung, wie sich beide Vers 14 finden, nicht von der Vergebung zu reden, wie sie jedem Einzelnen in seiner Rechtfertigung und Absolution zu Theil wird, sondern in einem Sinne gebraucht zu sein, wie er zu der großen That der Erlösung, die auf Golgatha geschehen ist, paßt. Auf Golgatha ist genug gethan für alle unsre Schuld: erworben und gewonnen, wenn auch noch nicht den Einzelnen zugetheilt, ist die Vergebung. Im Allgemeinen kann man sagen: „Auf Golgatha ist Vergebung der Sünden geschenkt,“ wie man sagen kann: „Auf Golgatha sind wir erlöst.“ Weil ich die Worte von der Vergebung hier so glaube faßen zu müßen, nannte ich den 14. Vers die dritte Sproße der Leiter, welche auf der Höhe von Golgatha aufsteht. – Was nun aber das tüchtig machen des 12. Verses anlangt; so hielt ich auch hier den Gedanken fest, daß die Stufenleiter von oben nach unten beschrieben sei. Erlöst sind wir auf Golgatha, – dann sind wir durch Wort und Taufe aus dem Reiche des Satans und seiner Finsternis entnommen und ins Reich des geliebten Sohnes gesetzt; die Kraft der Erlösung wird uns in Taufe und Gottes Wort nahe gebracht und bewältigt sich unser. So steht es nun mit den Colossern, und was es jetzt gilt, das heißt nun tüchtig machen, befähigen, den Antheil am Loose aller Heiligen im Lichte zu faßen und zu behalten. Ich könnte mir ganz wohl denken, daß der Ausdruck „tüchtig machen, befähigen“ von der Rechtfertigung gebraucht wäre; ich würde keinen Anstand nehmen, ihn selbst tausend Mal so zu gebrauchen. Ist jedoch in unsrer Textesstelle ein Fortschritt – und zwar der umgekehrte der Heilsordnung, von oben nach unten, dann scheint mir der „Antheil am Loose der Heiligen im Lichte“ mehr auf das Loos hinzudeuten, welches die einzelnen Glieder des geistlichen Israel in jenem himmlischen Canaan bekommen werden, auf das Land und Erbtheil auf der neuen Erde, wenn so gesagt werden darf, – und das „tüchtig machen“, „fähig machen“ scheint dann nicht im Sinne des Erwerbens oder gar der Würdigkeit, sondern rein im Sinne der Besitzergreifung verstanden werden zu müßen. So wie ohne Heiligung niemand den HErrn sieht, obwohl wir alle und ohne Ausnahme aus Gnaden allein selig werden, und jener Ausdruck biblisch und wahr ist, wie die Lehre von der Seligkeit allein aus Gnaden; so wirst du auch, wenn du schon gerechtfertigt bist, doch nicht Besitz ergreifen von deiner ewigen Heimath, nicht befähigt sein, dein Erbe anzutreten, wenn du dich nicht heiligen läßest.

 So faßte ich den Schluß des Textes, welcher in kurzen Worten die ganze Bibel einfaßt, – in großen, prachtvollen und doch so einfältigen Reden den Grund alles Dankes darlegt, den wir mit allen Heiligen Gott in Zeit und Ewigkeit bringen sollen.

 Beweget nun ihr den Schluß des Textes und den ganzen Text in Euren Herzen. Faßet, was ihr könnet. Genießet, was euch bereitet ist. Der HErr aber verleihe euch Gnade, alles, was St. Paulus den Colossern erbetet hat, selbst zu empfangen – und dem HErrn dafür ewig zu danken! Amen.




Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 165. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/541&oldid=- (Version vom 1.8.2018)