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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

für die eigenen Kinder. „Von dem Tage an, sagt unser Text, da wir von euch hörten, hören wir – also Paulus und sein gleichgesinnter Jünger Timotheus, wie man aus dem ersten Verse der Epistel sieht, – nicht auf für euch zu beten und zu flehen.“ Welch ein Leben voll unaufhörlichen Gebetes und Dankes, voll brünstiger Andacht führte also St. Paulus und (daß wir den Vorwurf für uns vermehren, indem wir dieselbe Liebe auch bei einem andern finden), – auch Timotheus, daß sie für Corinther und Philipper und ebenso für die Kolosser ohne Unterlaß bitten, sowie ihnen nur kund wird, daß dieselben den gleichen Herrn und Heiland gefunden haben und anbeten. Gott sei uns armen Betern gnädig, die wir kaum für uns beten, geschweige für unsere Nächsten, – die wir kaum beten, geschweige danken, – die wir Gottes Angesicht kaum für unsre Gemeinden dankend und betend suchen, geschweige für die Gemeinden in andern Ländern und von andern Zungen.

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 Was den Inhalt der Bitte St. Pauli für die Colosser betrifft, so kann derjenige, welcher den Inhalt seiner übrigen Gebete für Gemeinden kennt, wohl schwerlich in Abrede stellen, daß er der Hauptsache nach von den andern Gebeten Pauli nicht sehr verschieden ist. Es bedarf ja auch im Allgemeinen nicht jeder Mensch etwas anderes; alle haben gleiche Bedürfnisse; denselben Bedürfnissen kommt der HErr mit denselben Gaben entgegen; und je mehr ein Mensch dies erkennt, desto mehr wird die Summe aller seiner Gebete für alle die gleiche sein. Er kann auch darüber nicht betroffen sein, er muß ja einsehen, daß es gar nicht anders sein kann. So bittet denn St. Paulus für die Colosser, wie für andere, die schon im Glauben stehen, um Mehrung ihrer Erkenntnis und um einen heiligen Wandel. Dieser und seine Vollendung ist durch jene bedingt; jeder Fortschritt im Leben hängt von unserm Fortschritt in der Erkenntnis ab. Könnten wir, so lieb wir die Unsrigen haben, etwas anderes für sie erbitten und erflehen? – Diese allgemeinen Gebete des Apostels nehmen jedoch bei der Anwendung auf einzelne Gemeinden eine besondere Gestaltung an, welche ihnen den allgemeinen Charakter nicht benimmt, aber dennoch einen warnehmbaren Unterschied in dem betenden Erguße seines Herzens hervorbringt. So heißt der allgemeine Theil des Gebetes Pauli in unserem Texte: „Wir hören nicht auf, für euch zu beten und zu flehen, daß ihr voll werdet an Erkenntnis Seines Willens in allerlei Weisheit und geistlichem Verständnis würdig des HErrn zu wandeln zu allem (Seinem) Wohlgefallen.“ Auch hier, wie anderwärts, betet St. Paulus um Erkenntnisdes Willens Gottes“, worunter er nicht den Willen Gottes in der Führung des menschlichen Geschlechtes, nicht Deßen Offenbarung in der heiligen Geschichte versteht, sondern den Willen Gottes, wie er in den Führungen der einzelnen Gemeinden und Seelen erkannt werden soll. Die gewöhnlichen Menschen fragen nicht nach dem Willen Gottes, sondern sie folgen ihrem eigenen natürlichen Willen. Frömmere Menschen wollen dem eigenen Willen nicht folgen, sondern dem Willen Gottes; sie haben aber oft eine jammervolle Angst, wenn ihr Auge in einzelnen Fällen Gottes Willen nicht erkennt. Die Kolosser waren nicht der ersten Art; daß sie aber auch nicht zur zweiten Classe gehören möchten, deshalb betet und fleht der Apostel für sie. Ihr inneres Auge soll hell werden durch göttliche Weisheit, die zum rechten Ziele die einzuschlagenden rechten Wege erkenne, und durch gestärkte geistliche Faßungskraft, durch Schärfe und Feinheit der geistlichen Warnehmung. Es erinnert die Stelle sehr an Philipp. 1, 9. 10., an die herrliche Stelle vom geistlichen Tacte und Warnehmungsvermögen, welche wir vor vierzehn Tagen vornahmen. Der Zusammenklang beider Stellen beweist nun um so mehr, wie nöthig es ist, sein Inneres aus der Schule des heiligen Geistes nicht bald und überhaupt nie zu nehmen. Wir sind bei dem Geiste Gottes in einer Schule der Entrohung und Bildung, die, allem Gemeinen und Gewöhnlichen feind, Herzen und Sinne zur schönsten Vollendung bringen will. Man darf auch gar nicht fürchten, als ob jemals nichts mehr zu lernen, die innere Kraft nicht mehr zu schärfen, die Sehkraft nicht mehr zu verfeinern sein könnte. Es hängt uns von Natur und durch unsre so vielfach grundfalsche Erziehung eine solche Menge und Masse geistlichen Schmutzes an, daß wir mit unsrer Reinigung und Erziehung, so lange wir hier sind, gewis nicht fertig werden, es auch weder fürchten, noch glauben dürfen, jemals fertig zu sein. – Von diesem Fortschritt unserer Erkenntnis, unsers innern Lebens

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 161. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/537&oldid=- (Version vom 1.8.2018)