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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

für sich ganz unzweifelig Anhänger und Diener JEsu Christi sein, dennoch kann das Verhalten des einen im Vergleiche mit dem des andern sich unterscheiden, wie Himmel und Erde, wie Rohheit und edle Bildung, und während der eine mit seinem Wandel nach allen Seiten hin befriedigt, kann der andere an allen Orten und Enden Anstoß erregen. Das Verhalten des einen kann eine lautere Offenbarung, das des anderen eine Verhüllung des inwendigen Lebens sein. So viel kommt darauf an, daß man den rechten Takt und Prüfungssinn habe, von welchem St. Paulus redet, und daß man die Unterschiede erkenne, die auch dann noch vorhanden sind und sich geltend machen, wenn man im Ganzen und Allgemeinen bereits Christo dem HErrn angehört. Man muß lauter, d. i. durchleuchtig, so vom Geiste durchdrungen werden, daß, genau am Worte und Bilde des Wortes zu bleiben, welches St. Paulus braucht, auch der helle Sonnenstrahl des Auges Gottes an und in uns nichts Böses findet. Dahin muß man streben, diese Stufe für sich und andere erbitten, und von dieser Stufe hängt dann auch das ab, was St. Paulus seinen Philippern drittens wünscht. Sie sollen erfüllt werden mit Früchten, oder wie andere lesen, „mit Frucht der Gerechtigkeit, die durch JEsum Christum geschieht zur Ehre und zum Lobe Gottes.“ Ein Mensch, der jene feinere Erkenntnis, und jenen erwünschten Takt nicht hat, von welchem unser Text spricht, wird auch schwerlich jene reiche Menge von allerlei Früchten eines heiligen edlen und schönen Lebens Gott seinem Schöpfer und Erlöser bringen, welche in unserem Texte angedeutet ist. Es sei mir ein Gleichnis gestattet, welches, wenn auch nicht von Bäumen und Früchten hergenommen, vielleicht doch ganz wohl den Unterschied bezeichnen kann, welcher zwischen der hohen Bildung eines Menschen ist, wie sie St. Paulus will, und dem Zustand eines andern, der sich damit begnügt, in irgend einem Maße mit Christo verbunden zu sein. Ein Steinmetz haut mit roher Hand und grobem Meißel ein Christusbild aus, ein Meister in der Bildhauerei thut in seiner Weise dasselbe: was für ein gewaltiger Unterschied ist zwischen den beiden Arbeiten! In beiden erkennst du, daß dir dein Erlöser vor Augen gestellt wird, aber während das rohe Bild vom Steinmetz nur wie ein Zeichen und eine Erinnerung deßen ist, was es soll und will, so vermochte die Hand des Künstlers der Idee nahe zu kommen, die man von einem Christusbilde hat: bei jenem erinnert die Arbeit im Ganzen an den HErrn, bei diesem die Ausführung jedes einzelnen Theiles. So ist auch der Mensch, der sich durch Liebe zu einer solchen lichten und heiligen Erkenntnis treiben läßt. Er bildet seinen HErrn Christus nicht bloß im Allgemeinen vor, sondern auch in allem Einzelnen. Nicht bloß sein Leben im Ganzen ist eine Frucht des christlichen Geistes, sondern auch sein Verhalten nach allen Seiten hin und in allen einzelnen Dingen. Er ist nicht ein Baum, der seinem HErrn eine einzige große, grobe plumpe Frucht trägt, sondern ein solcher, deßen Aeste und Zweige die reichste schönste Fülle einer heiligen Ernte der Gerechtigkeit seinem Schöpfer zum Opfer bringen.

 Wahrlich, meine Brüder, hier finde ich mich ganz in dasjenige versetzt, was auch ich Euch zu erbitten habe. Der rothe Indianer in Nordamerika nimmt allenfalls das Christentum an, aber er will dabei in seiner Wildnis und ein wilder Mensch bleiben. Er flieht und haßt die Früchte der aus dem Geiste Christi wie von selbst fließenden heiligen Bildung. Nicht gerade so, aber ähnlich verhält es sich mit dem Christentum unserer Landleute. Die verderbte väterliche Sitte, die gesammte Rohheit und all der Schmutz des Lebens und Daseins, welcher unser Landvolk so widerlich entstellt, bleibt unverändert auch bei denjenigen, die ihre Herzen Christo zuneigen. Von eingehender Erkenntnis, von Takt und Gefühl für das Gute und Schöne ist da nicht einmal eine Sprache und wie die Waldbäume keine Aepfel oder Birnen tragen, so sucht auch der HErr vergeblich an Seinen meisten Kindern auf dem Lande die Früchte eines durchleuchtigen, unanstößigen, unterscheidenden, gerechten Wesens. Daher habe ich für die meisten, auch die beßeren unter Euch nicht leicht einen Text zu finden, der mehr ausspräche, als der heutige epistolische Text, was ihr bedürfet. Möchte ich doch beten und beten können, wie Paulus für seine Philipper, und erhört sein, wie er. Möchte der ewige Hohepriester selbst für euch beten, ihr aber keinen Widerstand leisten gegen die Bitte und Erhörung, die euch so nöthig ist. Amen.




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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 152. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/528&oldid=- (Version vom 1.8.2018)