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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

die des Herzens Christi würdig, die also rein ist nach der Aehnlichkeit der reinen Liebe JEsu und stark nach der Aehnlichkeit Seiner starken Liebe. Solche Ausdrücke können uns wohl zur Bewunderung der apostolischen Liebe hinreißen, aber sie werden auch geschickt sein, unsere große Liebesarmuth an den Tag zu bringen. Wer von uns allen würde es denn wagen, dem Apostel nach einen heiligen Schwur der Bruderliebe und des brünstigen Verlangens nach der Liebe JEsu zu thun? Dies Wort Gottes kann uns daher zu nichts anderem dienen, als zur Strafe und zur Buße und unsere gesammte Beßerung in diesem Stücke müßte aus dieser Buße hervorgehen.

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 Wie wir bereits oben gesagt haben, vollendet und löst sich das Liebesverlangen des Apostels in Gebet auf. Voraus läßt sich denken, daß St. Pauli Gebet für eine Gemeinde, welche so ganz die seine war und wie aus einem Herzen gewachsen, auch völlig den Bedürfnissen dieser Gemeinde angemeßen sein werde. Diese Erwartung finden wir auch vollkommen gerechtfertigt durch die Betrachtung des in den letzten Versen unseres Textes offen vorliegenden Gebetsinhaltes. Das Hervorstechende an der Gemeinde von Philippi ist die Liebe, Liebe zu Gott und Seinem Christus, die sich auch in großer Liebe gegen den Apostel kund gibt. Was ihr etwa mangelt, ist der reiche volle Fortschritt in der Erkenntnis, der allen nöthig ist, welche in den vorkommenden mancherlei Fällen des Lebens das Rechte treffen, und unter den mancherlei Wegen, die sich zuweilen zu dem Einen großen Ziele eröffnen, den besten betreten wollen. Von diesem Fortschritt in der Erkenntnis hängt dann wieder so gar oft der rechte Fortschritt in den guten Werken und die Reife edler Früchte ab. Wer nicht erleuchtet ist, wie er sein sollte, dem mangelt zu den guten Werken das rechte Licht. So erbittet denn der Apostel seinen Philippern Fortschritt in der Erkenntnis und eine große Fülle von Früchten und guten Werken. Merkwürdiger Weise aber macht er die Erfüllung beider Bitten von einem Fortschritt in der Haupttugend der Philipper, in der Liebe, abhängig, so daß er vor allen um Liebesmehrung betet. So sind es also eigentlich drei Bitten, welche St. Paulus für die Philipper im Herzen trägt: eine Bitte um Liebe, eine zweite um Erkenntnis, eine dritte um allerlei gute Früchte und edle Werke. „Das bete ich, daß eure Liebe noch mehr und mehr überfließe in Erkenntnis und allerlei Erfahrung.“ Das sind die Worte des Apostels, aus denen ihr sehet, daß er um Liebesmehrung betet, auf daß die Erkenntnis völliger werde. Merkwürdig ists, daß mit der Erkenntnis noch das verbunden wird, was ich so eben vorläufig nach Luthers Uebersetzung mit dem deutschen Worte „Erfahrung“ zu geben suchte. Schon unter der Erkenntnis ist hier nicht jene bloß wißenschaftliche oder verstandesmäßige Erkenntnis verstanden, welche man auch ohne Liebe haben kann, sondern es ist eine Frucht der Liebe gemeint, ein liebevolles Eingehen auf die göttliche Wahrheit und das ganze Gebiet des inneren Lebens, auf dem sie sich geltend machen muß. Was aber das Wort „Erfahrung“ betrifft, so steht im Griechischen ein Wort, welches nicht eigentlich von Erfahrung redet, sondern etwas bezeichnet, was wir im gemeinen Leben oft Takt, feinen Takt nennen, was man ein von der Erkenntnis durchdrungenes Gefühl und zarte Empfindung für die mannigfaltigen Abstufungen und Färbungen des Rechten und Wahren nennen könnte. Die Liebe soll die Erkenntnis der Philipper nicht bloß reiner und sicherer, sondern auch zarter machen, sie sollen durch die Liebe gewissermaßen Fühlhörner bekommen, ein vorausgreifendes ahnendes weißagendes Vermögen deßen, was in allen Fällen der Geist der Wahrheit als geziemend bezeichnet. Dieses Vermögen bedürfen die Philipper, „daß sie prüfen mögen, was das beste sei, auf daß sie seien lauter und unanstößig bis auf den Tag JEsu Christi.“ Luther übersetzt, sie sollen prüfen, was das beste sei: dem Wortlaute nach aber heißt es, sie sollen die Unterschiede prüfen. Es kann jemand allewege einen guten Willen haben, wenn ihm aber die eingehendere Erkenntnis und der Takt fehlt, von welchem St. Paulus redet, so ist er nicht fähig, in seinem Verhalten je nach den Winken des Geistes der Wahrheit sich allewege lauter und unanstößig zu verhalten; es mangelt ihm alsdann zu sehr der Prüfungssinn, und die Fertigkeit eines allzeit wachen und in allen Stücken der göttlichen Wahrheit dienenden Geistes. Wir können es alle Tage sehen, was für ein Unterschied zwischen Christen und Christen ist. Es können zwei Menschen, jeder

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 151. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/527&oldid=- (Version vom 1.8.2018)