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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

wir innerlich zu einem göttlichen Leben der Andacht gelangen, daher leben wir hier auf Erden vor allen Dingen zu dem Zweck, Gott den Unsichtbaren zu finden und mit Ihm in eine gläubige Verbindung zu kommen, in ein persönliches Verhältnis, daß Er in uns und wir in Ihm seien, im höhern Sinn des Wortes in Ihm leben, weben und seien.

 Hier schließt sich nun das Wort St. Pauli von der Erziehung für die Zukunft an, und zwar auf das allerengste, wie man sich schon aus den sprachlichen Formen des Grundtextes überzeugen kann. Denn es heißt, „die Gnade zieht uns, auf daß wir gottselig leben in der gegenwärtigen Welt, in Erwartung der seligen Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unsres Heilandes JEsu Christi.“ Es wird also auf das engste verbunden gottseliges Leben und Erwartung der seligen Hoffnung, wie wenn eins ohne das andere nicht sein könnte, wie wenn man nicht gottselig leben könnte, ohne eine brünstige Sehnsucht und ein Verlangen nach der seligen Hoffnung der Kirche zu bekommen. Das ist ja auch in der That so. Der Christ weiß, was sein Gott vorhat für das Ende dieser Weltperiode, es ist ihm offenbart und an das Ziel der Zeit wie ein winkender Kampfpreis, wie ein heiliges Kleinod gestellt; was aber sein Gott ihm offenbart und darreicht, das muß in ihm ein Hoffen, ein Sehnen und Verlangen, ein Streben und Ergreifen wirken. Und das alles liegt auch in dem Worte St. Pauli, das Luther mit dem Worte „Warten“ übersetzt hat. Da ist keine Rede von einem faulen, trägen Zuwarten, bei welchem einem die Zeit nicht zu lang wird, wobei man sich auch mit andern Dingen zerstreuen kann. Das Warten, zu welchem wir erzogen werden, entspricht dem Gegenstand, auf den man wartet, wie es ja auch beim Warten auf andere Dinge der Fall zu sein pflegt. Je Größeres man erwartet, desto reger und mächtiger ist die Erwartung selber. Nun läßt sich der Gegenstand unsrer Erwartung gar nicht herrlicher und schöner beschreiben, als mit den apostolischen Worten: „selige Hoffnung und Erscheinung unsres großen Gottes und Heilandes JEsu Christi.“ Bei dieser Darstellung denkt man an keine Feinde, keinen Antichristus, kein Blutvergießen, keine Hölle, auch an keine Veränderungen des Himmels und der Erde, keinen Weltbrand und Weltuntergang. Sie erweckt keine Schrecken, kein Entsetzen, sie verbindet mit der Hoffnung das Beiwort „selig“ und nennt den erscheinenden Gott JEsus Christus auch unsern Heiland. Sie läßt also durch alles, was man fürchten kann, die Frühlingsdüfte des ewigen Lebens und mitten in den furchtbaren Erweisungen der Allmacht JEsu Christi zugleich auch die durchbohrte, gnadenreiche Hand des guten Hirten schauen, der nun seine Schafe zu den frischen Waßern und grünen Auen einer ewigen Erquickung führt und sammelt. Selige Hoffnung, Erscheinung unsres großen Gottes und Heilandes, wie thust du so wohl dem müden, thränenreichen Geschlecht der Streiter und Pilger nach dem ewigen Zion, wie kannst du die Geduld stärken, die Jammerthränen trocknen, alles Leid in Sehnsucht, Verlangen und Streben verwandeln und uns so ergreifen und anziehen, daß wir auffahren wie die Adler, daß wir laufen und nicht müde werden, bis wir haben, was wir hoffen. Es geht oft so schwer, meine Lieben, mit dem Verleugnen und dem neuen Leben; es sollte nicht schwer gehen, aber es geht doch oft so schwer; die Hände werden laß, die Kniee straucheln, der Geist ermüdet. Wir sänken hin wie ein Blümlein von der Hitze, aber was hilft, was rettet, was stärkt uns? Es ist die Hoffnung der großen Herrlichkeit des Endes dieser Zeit und des Anfangs der ewigen Tage. Und diese herzstärkende Kraft der Hoffnung, dieser Mut, diese Freudigkeit werden um so größer, je mehr wir die Hoffnung selber kennen lernen, je mehr sich unser Herz an sie gewöhnt, und für sie erzogen wird. Es liegt daher so sehr viel an dieser Gewöhnung und Erziehung.


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 Brüder, diese Erziehung zum dreifachen Zwecke ist der Weihnachtsgedanke, den wir männlichen Geistes faßen sollen. Am Feste, da wir den Geburtstag JEsu feiern und Seiner ersten Erscheinung in der Welt, sollen wir den Blick nach der zweiten Erscheinung ausstrecken. Aus der Tiefe der Erniedrigung, die wir heute schauen, sollen wir auf die Majestät den Schluß machen, in welcher der HErr wiederkommen wird, – aus der Gnade der Menschwerdung und Erscheinung in der Höhle Seiner Geburt auf die Gnade der Erlösung an jenem großen Tage. Und wie heute die Hirten zu ihm kamen und seine Krippe

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 043. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/50&oldid=- (Version vom 1.8.2018)