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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

daß es das naturgemäße Alter nicht erreicht. Es muß daher jede Tugend erstarken, nach Kraft und Dauer und unausgesetzter Uebung trachten, jede Tugend ihre Langmuth haben, sonderlich aber die demüthige Sanftmuth, welche ihr Werk zum Heile der Gemeine und zur Erreichung ihres Berufes gewis nicht leisten wird, wenn sie das Mannesalter der Langmuth nicht erreicht. Siebenmal siebenzigmal vergeben, nimmer die Hoffnung aufgeben, am Heile des Nächsten nicht verzagen, so lang sein Odem ein- und ausgeht, ihn trotz aller Hindernisse und Sünden dennoch auf liebenden Armen tragen, wie das im Worte des heiligen Textes liegt, nach welchem wir einander in Liebe mit Sanftmuth empor halten und tragen sollen, das ist die hohe heilige Kunst derer, die des Berufes würdig wandeln wollen. Meister in der Kunst ist JEsus, der unermüdlich die verlornen Schafe sucht und alle Seine Schafe weidet; Gesellen und Genoßen in Seiner Liebesarbeit sind alle Seine Heiligen. – So hätten wir also Demuth, Sanftmuth, Langmuth, diese drei. Damit nun aber alle drei vollkommen seien, muß noch eine vierte Tugend hinzutreten, nemlich der Fleiß oder der Eifer. Verflucht ist, wer das Werk des HErrn läßig treibt. Lauheit, Trägheit hindern alle Werke der Heiligen, halten das Wachstum, die Zeit und die Ernte auf, während der Eifer zur Demuth, Sanftmuth und Langmuth zugleich wie ein feuchtes Erdreich für die ausgestreute Saat und wie eine heiße, segensreiche Sonne über den Fluren ist. Die Einheit der Gemeine wird bei einer läßigen Demuth, Sanftmuth und Langmuth entweder nicht oder doch ungleich weniger gefördert und erbaut werden, als wenn der Eifer sprüht und der Fleiß vorwärts treibt. Es wird übrigens dieser Eifer in unserem Texte noch näher beschrieben in den Worten: Seid eifrig oder fleißig, zu halten die Einigkeit des Geistes durch das Band des Friedens. Als vorhanden wird angesehen die Einigkeit des Geistes, sintemal wir ja hören, daß der Apostel sagt: „Ein Leib, Ein Geist.“ Wo die Kirche Gottes ist, da ist auch Einigkeit des Geistes. Aber gehalten muß sie werden, damit sie nicht entschwinde, nicht verloren gehe. Gehalten aber wird sie durch das Band des Friedens. Gott gibt die Einigkeit des Geistes, den Einen Geist und alle Seine Gaben. Den behalten die Friedfertigen, den Friedenlosen und Streitenden entschwingt er sich. Welche nicht durch den Frieden, wie durch ein Band zusammengehalten werden, bei denen bleibt weder der Eine Geist, noch wird der Eine Leib unversehrt erhalten. Darum ist von Anfang an der Teufel ein Störenfried der Schafe JEsu und ist nichts eifriger zu thun bemüht, als den Frieden wegzunehmen aus der Kirche. Da müßen die Judenchristen wider die Heidenchristen aufgeregt werden und beide sich von einander trennen, die Kirche in Stücken gehen, damit wo möglich die hohe Absicht JEsu aus Gliedern aller Völker die Kirche zu vereinen, vernichtet und der Beruf der Mannigfaltigkeit aller Zungen zu einer heiligen Einheit zerstört werde. Da muß zu allen Zeiten über die Wahrheit gestritten, statt ihr alle Herzen zugeneigt werden; da muß es Rotten und Spaltungen und Sekten und Ketzereien geben, der Menschen Haß und Leidenschaft in die Geschichte der heiligen Schriftforschung hineingetragen werden, damit ja allezeit etliche Glieder des Leibes ersterben und der Eine Leib den Frieden des Einen Geistes nicht besitze. O wie ists da so nöthig, daß das Band des Friedens immer neu gewoben, immer aufs Neue um die Glieder des Einen Leibes geschlungen und so die Einigkeit des Geistes erhalten werde. Was braucht es dazu für Demuth, Sanftmuth, Langmuth, und welch ein Eifer, welch ein großes Maß von Fleiß ist da vonnöthen! Da müßen alle Kräfte empor gehen zu dem heiligen Zwecke, den Beruf der Kirche im Frieden auszuführen, und wo sie empor gehen, da freut sich der Himmel und in Jerusalem ist Wonne, daß dem Satan auf Erden sein Werk nicht gelingt, sondern die Kirche ihres Bräutigams würdig wandelt und Seines heiligen Berufes.

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 An wen schreibt nun aber der Apostel diese Ermahnung zu dem des Berufes würdigen Wandel? Bekanntlich an die Ephesier, an Eine Gemeinde. Zunächst diese Eine Gemeinde nennt er Einen Leib und Einen Geist, ihr zunächst schreibt er den Einen Geist und die Eine Hoffnung zu, den Einen HErrn, den Einen Glauben, die Eine Taufe; ihre Glieder sind zunächst die „Alle“, deren Gott und Vater der Vater unsers HErrn JEsus Christus ist, über denen, durch die und in welchen derselbe Vater ist. So bekommt die Eine Gemeinde Namen, als wäre sie die ganze Kirche; was der ganzen Kirche eignet, das wird den Ephesiern zugeeignet, und was als eine Ermahnung

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 120. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/496&oldid=- (Version vom 1.8.2018)