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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

dieser: „Der da ist über alle und durch alle und in allen,“ ihre besondere Schwierigkeit haben. Die erste Person der Gottheit kann in unserem Texte, der bloß von der Kirche redet und ihrem heiligen Berufe, nicht im Sinne der Schöpfung als Vater aller dargestellt werden; ebenso kann das „über alle, durch alle und in allen“ nicht wohl auf die Allgegenwart und allgegenwärtige Wirkung des HErrn im geschaffenen Raume bezogen werden, sondern es muß eine Begrenzung durch die Absicht des Apostels empfangen, der doch nichts anderes vorhat, als Einigungsgründe der Gemeinde JEsu Christi anzugeben. Das „über, durch und von“ bezieht sich daher auf die Gläubigen, denen die erste Person in der Gottheit, der Vater unsers HErrn JEsu Christi im besonderen Sinne ein Vater ist, über denen Sein Vaterauge wacht, durch welche Seine väterliche Hand wirkt, und in welchen Er als in lebendigen und wandelnden Tempeln wohnt. Es ist ein wenig bedachter, aber alles Bedenkens werther Grund aller christlichen und kirchlichen Einigkeit, daß wir in einem Sinne, welchen die Welt nicht kennt, nicht versteht, den Vater JEsu Christi zum Vater, zum Beschützer, zum Werkmeister und Einwohner haben; und wenn es auch kein Grund ist, durch welchen die Kinder dieser Welt willig werden, den Beruf zur Kirche anzunehmen, so ist es doch desto mehr Grund für diejenigen, welche bereits zur Kirche gehören, ihren Beruf und ihre Erwählung fest zu machen, immer höher zu achten und seiner desto würdiger zu wandeln.

 So viele Gründe hat der Apostel Paulus den Ephesiern angegeben, um sie zur Einigkeit zu bewegen, und sie die Größe ihres Berufs, der allewege ein Beruf zur Einigkeit, weil zu der Einen Kirche ist, schätzen zu lehren. Wer durch alles das, was aufgezählt worden, nicht geneigt wird, einen Beruf aller Christen zur Einigkeit anzuerkennen, der hat wohl die drei mal drei Bande der Einigkeit in den letzten Worten unseres Textes entweder nicht erwogen oder nicht verstanden, oder er ist ein Feind des menschlichen Geschlechtes, welchem in diesem Rufe das größte Glück angeboten wird für Zeit und Ewigkeit. Es wäre daher wohl eine hohe Pflicht aller, die Lehre des heiligen Paulus von dem Berufe zur Einigkeit und den Gründen dazu fleißig und ernstlich zu betrachten und zu erwägen, was alles in der Einigkeit der Kirche für Heil und Seligkeit liegt. Gerade das ist ein Punkt, welchen wir nicht nach Würden erwägen, der überhaupt in unserer Zeit nicht genug erwogen wird. So recht man thut, vor allen Dingen darauf zu sehen, daß man ein Glied Christi sei und immer mehr werde, so blind ist man doch oftmals in Betreff der Erreichung seines Zwecks, indem man übersieht, wie kräftig unsere Verbindung mit Christo JEsu und das Heil der einzelnen Seele durch die Einigung der Glieder zum Ganzen und die Gemeinschaft der Kirche Gottes gefördert wird. Der Kirche liegt an der Lehre von ihrer eigenen Einheit und Einigkeit und ihrem seligen Berufe, innerhalb einer Welt voll Mannigfaltigkeit und Gegensatz Ein heiliger Leib und eine eng verbundene, gottverlobte Schaar zu sein, so viel, daß sich ein jeder an ihr versündigt, der diese Lehre und Einheit nicht treibt und fördert. Wenn dir ein Gegensatz begegnet oder eine doppelte Meinung über irgend einen Punkt des Glaubens oder des christlichen Lebens, so sei nicht leichtsinnig darinnen, sondern ergreife die Wahrheit nach dem göttlichen Wort. Du hast auch nicht Erlaubnis, selbst nur die geringste Wahrheit gering zu schätzen, nicht einmal um der kirchlichen Einigkeit willen. Es liegt allerdings mehr an der Vereinigung mit Gott, die wir durch gläubiges Erfaßen Seiner Wahrheit finden, als an der Vereinigung mit der Kirche. Aber laß dir ebensowenig die heilige Pflicht verdunkeln oder entrücken, die Einigkeit zu pflegen, so weit sie da ist. Durch eine kräftige und lebendige Vereinigung für die gemeinsame Wahrheit wird sogar die Einigungslust und Einigungskraft in Betreff derjenigen Punkte gestärkt, in denen man uneinig ist, und man wird durch Anerkennung des Verwandten und Gemeinschaftlichen für das Reich der Wahrheit sicherlich nicht weniger schaffen und gewinnen als durch Erwägung der Unterschiede.

 Hier wenden wir uns nun, meine lieben Brüder, zu demjenigen Theile unseres Textes, welcher von dem des Berufes würdigen Wandel spricht; ja man kann sagen, wir hätten schon einige Augenblicke uns ganz mit diesem Theile des Textes im Allgemeinen beschäftigt. Der Apostel ermahnt zu einem Wandel, der des Berufes würdig ist. Der Beruf ist ein Beruf zur Einigkeit; es kann also kein Wandel des Berufes würdig sein, der Ziel und Zweck des Berufes hindert. Sind wir zur Einigkeit berufen, so muß

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/494&oldid=- (Version vom 1.8.2018)