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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

verwandt und in einer Beziehung zum sechsten Gebot zu stehen. Das ist nun aber mit dem Worte, welches St. Paulus gebraucht, welches Luther in verschiedenen Stellen verschiedentlich in’s Deutsche übersetzt, nicht der Fall. Luther übersetzt das Hauptwort derselben Wurzel auch mit dem deutschen Worte „Mäßigkeit“. Aber auch dieses Wort reicht nicht hin und lädt uns nach unserem gewöhnlicheren Sprachgebrauch zu sehr ein, an Mäßigkeit im Eßen und Trinken zu denken. Näher am Sinne läge es, zu sagen Mäßigung, oder geradezu Maß, wiewol es dann doch unverständlich wäre, wenn wir in unserm Texte übersetzen wollten: „Die Gnade zieht uns, daß wir mäßiglich, gerecht und gottselig leben in der gegenwärtigen Welt.“ Wir haben im Deutschen kein Wort, welches dem griechischen Ausdruck volle Genüge thäte, und es kommt einen hier, wie überhaupt manchmal, an, dem Hörer ein Wort aus dem griechischen Texte zuzumuthen. Oft scheint am Laute des griechischen Wortes schon der rechte Sinn zu hangen. Das griechische Hauptwort, welches hier gebraucht wird, heißt Sophrosyne, und das Umstandswort, welches in unserm Texte steht, heißt sophronôs, und der Apostel will damit nichts andres sagen, als daß das Eigentumsvolk des HErrn die edle männliche Tugend besitze, sich in allen Stücken im rechten Maße zu halten, im Denken, in jeder Leidenschaft, in allem Begehren, in allem Thun. Zu dieser Tugend des heiligen Maßes will die erziehende Gnade uns alle fördern. Wer sie hat, hat Haltung nach außen, Sicherheit des Benehmens, Zuversicht des Handelns, Freudigkeit und Ruhe; er hat eine geordnete Seele und ein geordnetes Leben und ist in sich, was er sein soll. Er ist auch vor Leidenschaft und Stürmen bewahrt, und das Meer der Bewegungen in seinem Innern ruht in den Grenzen des gefundenen rechten Maßes, wie hinter Bergen, vor dem Winde geschützt. Man könnte wol sagen, daß ein Mensch in seinem Leben niemals die Frucht göttlicher und menschlicher Erziehung erreicht habe, so lang er nicht zu der heiligen Tugend des Maßes und der Mäßigung erzogen sei. Erst dann ist er ein ganzer Mann, erst dann ist er auch glücklich. Das Gegentheil davon sieht man an allen denen, die das Maß nicht halten, in irgend einem Stücke die rechte Grenze überschreiten. Mag sie überschritten werden in der Furcht oder in der Liebe oder im Haße, oder worin es sei, so gibt es allemal das Unglück der Aufregung, der innern Stürme. Dahin ist die edle freudige Nüchternheit, und was die Schrift sagt von der Unmäßigkeit im Weine, das zeigt sich alsbald bei jeder andern Unmäßigkeit. „Wo ist Weh, wo ist Leid, wo sind rothgeweinte Augen, und Wunden ohne Ursach“? Da, wo man in irgend einem Stücke das Maß nicht hielt. Wenn man daher auch die Tugend, von der wir reden, nicht geradezu als innere Vollendung faßen kann, so ist sie doch die Thürhüterin und Wächterin alles innern Wesens und Lebens, das nach Vollendung ringt, und das Kennzeichen derjenigen, die zum Ziel gelangen.

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 Auch die Gerechtigkeit ist ein Maß, aber das man nicht gegen sich selber, sondern gegen andre übt. Die Maler haben die Gerechtigkeit mit einer Wage in der Hand und mit verbundenen Augen abgebildet. Das sollte sagen, daß die Gerechtigkeit nur nach dem Zünglein der Wage greift, andre Umstände aber gar nicht berücksichtigt, oder daß sie im Verhalten gegen andre allein nach dem Recht fragt und nach sonst nichts. Wollte man nun aber sagen, daß der Apostel mit dem gerechten Leben, zu dem wir erzogen werden sollen, nichts weiter gemeint habe, als das, so würden wir ihm eine heidnische Auffaßung der Gerechtigkeit zuschreiben müßen. Er versteht unter einem gerechten Leben ein solches, das im Verhalten gegen andre allezeit auf das göttliche Wort und Gebot sieht, und einen jeden so behandelt, wie Gott der HErr es will. Da kann es dann allerdings sein, daß man sich in vielen Fällen gar nicht nach dem Zünglein der Wage des puren Rechtes, sondern nach dem Befehle der Barmherzigkeit und Güte richten muß, wenn man das apostolische Lob eines gerechten Lebens erlangen will. So ganz verschieden ist die christliche Lebensgerechtigkeit von dem, was die Heiden Gerechtigkeit nannten, daß man wol sagen kann, der heidnische Begriff der Gerechtigkeit sei vielfach der Tod der wahren, christlichen Gerechtigkeit. Es soll nun damit keineswegs gesagt werden, daß es der Natur leicht sei, im heidnischen Sinne gerecht zu leben. Im Gegenteil, schon das ist schwer, in allen Fällen einem jeden sein Recht und niemals Unrecht zu thun. Wie geneigt ist der Mensch, zumal wenn sein eigenes Interesse mit dem des nächsten zusammentrifft, das Seine auch mit offenbarer Verletzung des Rechtes zu

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 041. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/48&oldid=- (Version vom 1.8.2018)