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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

nicht bloß verwandt, sondern innerlich ganz dieselben sind. So stimmt also Evangelium und Epistel im Allgemeinen. Sie stimmen aber auch in der besonderen Anwendung. Dem Mammon nicht dienen, also auch nicht der Sorge um Speise und Kleidung, – so ruft der HErr. Der Apostel aber führt die Stimme des HErrn nur weiter aus. Nicht sorgen, sondern im Gegentheil, unbesorgt um das eigene Leben, die eigene Kleidung, das Eigentum, die zeitliche Habe wohl anwenden zum Besten anderer, das ist es ja, was St. Paulus im zweiten Theile des Textes befiehlt. So ist also auch die Wahl der heutigen Texte vollkommen gelungen zu nennen. Bei Verschiedenheit einig und eins, bei aller Harmonie dennoch reich an Eigentümlichkeiten und besonderen Schönheiten erscheinen uns die beiden Lectionen wie zwei reiche, prächtige Teppiche, deren einer durch den andern gehoben und durch Vergleichung verherrlicht wird.

 So steht es mit der Textwahl. Gehen wir nun insonderheit auf die Epistel ein, so zeigt uns der erste Blick, daß die heutige Epistel dicht an die des vorigen Sonntags angrenzt, deren Fortsetzung und mit ihr im innigsten Zusammenhang ist. Hat die vorige Epistel von einem doppelten Wandel geredet, von einem im Fleische und einem andern im Geiste, so redet die heutige von nichts anderem. Der Inhalt im Allgemeinen ist Einer. Doch wird man sagen können, die heutige Epistel führt den allgemeinen Gedanken nach zweien Seiten hin genauer und voller aus. Die vorige Epistel nennt viele einzelne Werke des Fleisches und Früchte des Geistes, aber da sie weniger auslegt als aufzählt, und auch die Aufzählung nur im Dienste der allgemeinen Gedanken geschieht, so ist sie doch ihrem Hauptinhalte nach allgemeiner gehalten als die heutige, welche zwei Gebiete des Lebens eines Christenmenschen eingehend und ausführlich bespricht.

 Um euch die herrliche Epistel nahe zu bringen und euch ihren Inhalt behältlich zu machen, werde ich wohl sagen dürfen, sie könne in drei einzelne Theile getheilt werden, in den ersten Vers (5, 25.), in die darauffolgenden sechs Verse (5, 26 – 6, 5.) und endlich in die fünf letzten Verse (Vers 6–10). Der erste Vers ist wie die Zusammenfaßung der zwei folgenden zu einem allgemeinen Satz, zu Einem Thema: er handelt von dem einem jeden Kinde des Geistes nöthigen Wandel im Geiste. Damit hebt er ja wirklich nur den Hauptgedanken hervor, der die vorige und die heutige Epistel durchdringt. Der darauffolgende zweite Theil des Textes zeigt den Wandel im Geiste in seiner Beziehung auf eigene und fremde Gabe und Sünde, der letzte aber in Beziehung auf das zeitliche Gut und deßen Verwendung. Also wird der allgemeine Gedanke auf zwei Lebensgebiete angewendet, welche groß und reich und wichtig sind, wie irgend andere, – von den Aposteln oftmals betrachtet werden, – und auch unserer oftmaligen Betrachtung würdig sind. Der heilige Geist schenke uns in Gnaden, um Christi willen – Licht, Wollen und Vollbringen für Sein heiliges Wort!

 So wir im Geiste leben, so laßet uns auch im Geiste wandeln.“ Das ist der erste Vers und Theil unsers Textes, der Eingang zum Ganzen. Jedermann sieht, daß in demselben zwei Dinge unterschieden werden, nemlich im Geiste leben und im Geiste wandeln. Sie sind unterschieden, aber sie sind auch in einer Verbindung mit einander; offenbar wird der Wandel im Geiste aus dem Leben im Geiste als nothwendige Folge hergeleitet. Wer nicht im Geiste lebt, kann nicht im Geiste wandeln. Man könnte nicht umgekehrt schließen: so wir im Geiste wandeln, so laßet uns auch im Geiste leben. Indem nun aber ermahnt wird, den Wandel im Geiste aus dem Leben im Geiste folgen zu laßen, ergibt sich, daß zwar der Wandel im Geiste aus dem Leben im Geiste folgt und folgen soll, daß aber die Folgerung nicht auf einer natürlichen Nothwendigkeit beruht, sondern auf dem getreuen Fortschritt des Menschen an der Hand des heiligen Geistes. Es kann jemand im Geiste leben ohne im Geiste zu wandeln. Ich will damit nicht sagen, daß man immer oder für’s ganze Leben einen solchen Widerspruch ertragen könne, im Geiste zu leben und dabei etwa gar gröblich den Weg des Fleisches zu wandeln. Wenn man auch nicht sagen kann und darf, daß sich die sittlichen Fortschritte unserer Seelen nach Art menschlicher Schlüße aus einem wahren Satze ergeben und ereignen, – wenn gleich gar vieles, was nicht zusammenpaßt, im Herzen und Leben des Menschen sich beisammen in gefährlicher Nachbarschaft findet: so ist es doch ein sehr bedenkliches Ding, wißentlich sittliche Widersprüche

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/476&oldid=- (Version vom 1.8.2018)