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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 Die ganze Epistel des heutigen Tages ist dem Apostel durch den Gegensatz abgenöthigt worden, in welchen sich die Heidenchristen zu ihm aus Liebe zum Gesetze begeben hatten. Diesen Gegensatz, meine lieben Brüder, muß man richtig faßen und begreifen: es ist ein reiner Gegensatz zwischen Fleisch und Geist, menschlicher und göttlicher Kraft. Wenn die Römischen behaupten, daß wir aus Glauben und Werken selig werden, wir aber, daß wir allein aus Glauben selig werden ohne Werke, so ist das nicht völlig derselbe Gegensatz, wie der in unserer Epistel. Der Römische redet zunächst von Werken, die dem Glauben folgen, während die Gesetzeswerke der Juden den Glauben vorangiengen. Die Werke, welche dem Glauben folgen, geschehen in des Glaubens Kraft, sind Aeußerungen des Glaubens und eben deshalb eines Lebens, welches übernatürlich und von dem Geiste Gottes selbst gewirkt ist. Dagegen aber die Gesetzeswerke, die vor dem Glauben hergehen, wie das große Ereignis auf Sinai vor dem großen Ereignis auf Golgatha, sind Werke des Fleisches und der Vernunft des alten Menschen, Anstrengungen der eigenen Kraft, Gottes Gebot zu erfüllen. Wenn daher der heilige Apostel den Gesetzeswerken alle Kraft abspricht, uns gerecht und selig zu machen, so ist das etwas anderes, als wenn den Werken, die aus dem Glauben kommen, die seligmachende Kraft abgesprochen wird. Es ist etwas anderes, aber es geschieht beides mit gleichem Recht, und die Kirche, die den Weg St. Pauli in Sachen der Rechtfertigung geht, das ist eben die lutherische Kirche: wehrt daher eben sowohl den Römischen, wie den Juden, und spricht allen Arten der Werke die gerecht und selig machende Kraft ab. Weder die Werke, die aus dem Glauben folgen, noch die, welche ihm vorhergehen, weder die, welche in Gott gethan sind, noch die, welche ohne Gott geschehen, sind untadelhaft und vollkommen; beide male mischt sich die Sünde des Menschen ein, wenn auch in verschiedener Macht und nach verschiedenem Maße. Was aber selbst nicht gerecht ist, kann gewis auch nicht gerecht machen. Der Ursprung unseres Lebens, unserer Gerechtigkeit und unserer Seligkeit bleibt immer und ewig allein die Gnade; die verdienende Ursache von allem und allem bleibt immer und ewig das angebetete Gotteslamm, und die ergreifende Hand aller Wohlthat Gottes, alles neuen Lebens, aller Gerechtigkeit und Seligkeit kann nie etwas anderes sein, als der Glaube, da die Werke ebensowenig etwas ergreifen als verdienen können. Mag man daher die Werke in der oder jener Hinsicht loben und preisen wie man will: den Ruhm, welcher ihnen von den Römischen beigelegt wird, nach welchem sie dem Glauben zur Seite im Werke der Rechtfertigung treten, kann man ihnen mit Wahrheit nicht beilegen, und das wahre, was in der römischen Lehre liegt, ist eigentlich weiter nichts, als was die lutherische Kirche sagt, daß der rechtfertigende Glaube nicht todter Art sei, sondern lebendig. Der Glaube steht eben in einem doppelten Verhältnis zu Gott und den Menschen, nach oben hin und zur Seite hin. In dem einen Verhältnis ist er rein empfangend, in dem andern gebend, und diese beiden Beziehungen eines und desselben Lebens darf man weder mit einander verwechseln, noch sie von einander scheiden.

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 „Noch von einander scheiden,“ habe ich gesagt. Ich kann nicht unterlaßen, dies zu wiederholen; ich weiß wo ich stehe und das Amt zu führen habe, und muß Gottes Wort richtig theilen. Es gibt Gemeinden, die anderer Art sind wie die hiesige, bei denen die Lehre von der Gerechtigkeit allein aus Glauben in Erfahrung steht, nicht misbraucht wird, als Kleinod ebensowohl des allgemeinen inneren, als des gesammten kirchlichen Lebens gilt. Ich hoffe wenigstens, daß es solche Gemeinden gebe, oder will ich es doch wünschen. Bei uns ist es nicht also. Die Mehrzahl unter euch lebt im Stande der fleischlichen Sicherheit und hat sich an die Lehre der lutherischen Kirche nur gewöhnt, wie sie sich auch an eine andere gewöhnt haben würde, wenn sie darinnen auferzogen worden wäre: daher gilt es auch, gegenüber solchen Zuhörern mit der Predigt von der Gerechtigkeit allein aus Glauben vorsichtig zu sein. Es ist in der That zu fürchten, daß sie von vielen unter euch gründlich gemisbraucht, und, wie man sagt, zu einem Faulkißen gemacht werde. Man kann es unter euch mit Ohren hören, daß ihr glaubet, mit den Werken und der Heiligung keinen so großen Ernst machen zu müßen, weil euch ja doch nur der Glaube gerecht und selig mache. Mit meinen Ohren habe ich es gehört, daß gesagt wurde: „Ich kann ja wohl einmal diese Sünde thun, der Pfarrer spricht mir ja die Absolution.“ Bei einer solchen Gesinnung und wißentlichen bewußten

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 092. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/468&oldid=- (Version vom 1.8.2018)