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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

gibt gute Werke im Stande der Gnade, aber es gibt auch Fehler, Sünden, böse Werke, und wie der gute Geist oftmals triumphiert, so triumphiert umgekehrt oft auch der böse, und die Kinder der Gnade können sündigen, ja fallen und abfallen und auf jeder Stufe weiter abwärts in gröbere Sünden herausbrechen. – Das wären Unterschiede zwischen Werken und Werken. Was aber haben alle Werke miteinander gemein, die Werke vor und nach der Gnade? Antwort: Die Werke vor und nach der Gnade haben das gemein, daß sie unser Heil hindern können, aber auf keiner Stufe des Lebens und der Vollendung geeignet sind, das ewige Heil zu verdienen und uns selig zu machen. Unsre symbolischen Bücher nennen unsere guten Werke an einer Stelle wohl verdienstlich, aber nicht in Anbetracht des ewigen Lebens, sondern nur in Betracht des verschiedenen zeitlichen und ewigen besondern Gnadenlohnes, den Gott in Seiner Freiheit und Barmherzigkeit auf unser verschiedenes Verhalten zu legen geruht hat. Auf die Erlangung des ewigen Heiles können wir um keiner Werke willen pharisäischen Anspruch machen. Mach einen Anspruch, wie der Pharisäer, so ist der Anspruch und das Werk selbst, um deßen willen er erhoben wird, selbst wenn es in seiner Entstehung und Vollbringung gut gewesen wäre, verloren. Die anspruchvolle, stolze Selbstgerechtigkeit nimmt allen in Gott gethanen Werken jeden Werth vor Gott. Daß Werke, wider Gottes Gebot gethan, misrathen schon in ihrer Entstehung, falsch von Absicht und Meinung alle Gnade tödten, ist ohnehin keine Frage.

 Aus dem allen erkennt man, daß die Sphäre der Wirksamkeit unserer Werke in den Weg unsers Heils theils nicht hereinreicht, denn die guten Werke schaffen kein Heil, theils nicht hereinreichen soll, denn die bösen Werke sollen ja unser Heil nicht hindern. Schaffen aber die Werke das Heil nicht und sollen sie es nicht hindern, so ist damit nicht gesagt, daß sie nicht sein und existieren sollen, oder daß sie gar keine Wirksamkeit haben. Sie haben eine weite Sphäre der Wirksamkeit. Sie sollen vor Gott und Menschen Beweis geben, daß das Heil, so weit es offenbart ist, von uns angenommen wird. Ihre zunehmende Lauterkeit und Unsträflichkeit, ihre wachsende Menge soll Zeugnis ablegen, daß wir das Heil immer völliger, immer inniger annehmen, daß Gottes Wort und Sacrament immer mächtiger in uns wirkt. Es ist wie mit den Gewächsen. Sie können keinen Frühling schaffen; selbst wenn ein Leben und eine Kraft in ihnen schlummert, vermögen sie doch den Winter nicht zu verscheuchen, der über ihnen liegt. Aber wenn die Frühlingslüfte wehen, die liebe Sonne höher steigt und wärmer scheint, das Jahr sich erneut, dann schlagen sie aus, und die Kraft und das Gedeihen von oben fördert je länger je mehr ihr Leben. So steigt unser Lebenstag, unsre Gnadenfrist: gleicher Weise soll und kann unsre Heiligung und Vollendung zunehmen; der Glanz unsers Sommers und Herbstes, d. i. unsrer guten Werke, soll immer schöner leuchten, damit die Engel Gottes sehen, es sei uns Gottes Gnade nicht umsonst geworden, die Kirche sich freue, daß das Christentum kein leerer Name sei, und die Leute dieser Welt in ihrem Herzen und Gewißen überwunden werden, den Vater im Himmel um der Kinder willen, die Er auf Erden hat, zu preisen und um der Umwandlung willen, die an ihnen zu erkennen ist. – Haben nun die Werke auch nicht die Kraft, uns Leben zu erwerben, so geben sie doch Zeugnis des Lebens, das in uns ist. Wer noch nicht im Stande der Gnade ist, kann mit seinen Werken, wie Cornelius, Zeugnis vor Gott und Menschen ablegen, daß die vorlaufende Gnade an ihm nicht vergeblich ist; und wer, wie St. Paulus, in der Gnade lebt, deß Werke können, in immer schönerem Lichte sich enthüllend, Beweis geben, weß Geistes Kind so ein heiliger Apostel ist. Das predigt dann mächtig hinein in die Welt! Da wird Auge und Herz vieler geöffnet und die Sehnsucht nach dem, was göttlich und heilig ist, aufgeweckt.

 Dies Verhältnis der Werke zu dem Heil und zu dem Leben in der Annahme des Heils zeigt sich nun so schön und klar im letzten Theile unsers Textes.

 Bei Aufzählung der Erscheinungen des auferstandenen JEsus war St. Paulus auch auf die Erscheinung gekommen, welche ihm selbst zu Theil geworden war. Er nennt sich eine „unzeitige Geburt“ und characterisiert damit seinen Zustand, in welchem er die Erscheinung Christi gehabt hatte. Noch war er nicht reif zur Geburt, zur geistlichen Geburt, er glich einem zu früh geborenen Kinde, als er, – dort bei Damaskus – seine Augen aufthun und den Auferstandenen schauen mußte. Er sah Ihn, da er noch

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 079. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/455&oldid=- (Version vom 1.8.2018)