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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Gemeine Gottes verfolget habe. 10. Aber von Gottes Gnaden bin ich, das ich bin, und Seine Gnade an mir ist nicht vergeblich gewesen, sondern ich habe viel mehr gearbeitet, denn sie alle; nicht aber Ich, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist.


 DIe beiden Texte des heutigen Tages sind nicht bloß mit einander im Zusammenhang, sondern sie sind, wenn man sie einmal in Beziehung zu einander gelesen und erkannt hat, gewisser Maßen unzertrennlich. Will man den einen von beiden auslegen, so kann man es kaum, ohne im Vergleich mit dem andern zu reden. Das macht, sie lösen miteinander eine und dieselbe Frage vollständig, wenn man sie zusammennimmt; unvollständig, nicht alle Bedürfnisse der menschlichen Seele befriedigend, wenn man jeden allein, mit Absehen von dem andern, behandelt. So wenig ich daher auch heute vorhabe, das Evangelium auszulegen, so muß ich mir doch die Erlaubnis ausbitten, es nicht bloß in seiner Verbindung mit der Epistel aufzuzeigen, sondern es immer im Auge zu behalten. Es wird dagegen der gewöhnliche Eingang vom Zusammenhang der beiden Tagestexte überflüßig.

 Beide Texte zeigen den Weg zum ewigen Heil – und zwar in dreifacher Weise. Zuerst wird ein falscher Weg des Heils gezeigt, dann wird der rechte Weg im allgemeinen, der Hauptsache nach, aber eben deshalb nicht völlig klar und deutlich, vorgelegt, endlich aber tritt derselbe völlig klar und deutlich in unserer epistolischen Lection hervor.

 Der falsche Weg wird von dem HErrn an dem Pharisäer gezeigt. Der scheint den Messias, welchen doch auch Pharisäer erwarteten, in gar keine Beziehung zum ewigen Heile gesetzt, ihn bloß als einen nationalen Erdenkönig angesehen zu haben, so ganz zufrieden ist er mit sich und seinen Leistungen, sogar vor dem Angesichte Gottes. Auch weiß er von einer tieferen Deutung des Gesetzes nicht; selbst der Wortlaut mancher Gebote, wie z. B. des ersten und der beiden letzten, fordert ihn nicht auf, sein Inneres einer ernsten Prüfung zu unterwerfen. Er ist zufrieden, weil er wöchentlich zweimal fastet und den Zehenten von allem gibt, was er hat, also auch von Dingen, die nach Gottes alttestamentlichem Worte gar nicht zehentbar waren. So meint er dann schon vor Gott gerechtfertigt zu sein, weil er sich äußerlich kirchlich hält. Sein Heilsweg ist der der eitlen, strotzenden Selbstgerechtigkeit. Das aber ist, wie wir alle wißen und hoffentlich auch mit Bezug auf uns selbst überzeugt sind, ein falscher, ganz verwerflicher Heilsweg, den man viel mehr einen sichern Weg zu ewigem Unheil nennen muß.

 Gegenüber dem Pharisäer steht der arme Zöllner und Sünder. Es wird nicht gesagt, daß der gar nichts Löbliches an sich gehabt oder gethan hätte, daß an ihm nur Böses, und nichts als Böses zu finden gewesen wäre. Aber er denkt nicht dran. Er steht vor Gott und fühlt sich in seiner großen Ferne von Ihm. Ein Selbstgericht ergeht in ihm mit lebendiger, durchdringender Schärfe. Seine Augen fallen zu Boden; seine Hand schlägt die Brust, die Höhle, wo das Bewußtsein wohnt; er seufzt, und alle Rede, welche er vor Gott zu bringen weiß, ist eine Bitte um Gnade. „Gott, sei mir Sünder gnädig“, spricht er. Wie er, muß der Pharisäer und die ganze Welt sprechen, wenn sie im Lichte Gottes steht. Gnade muß man haben, oder man ist verloren. Schon wer nach Gnade schreit und um sie betet, wie der Zöllner, ist gerechtfertigt vor dem eitlen Selbstgerechten. Wer aber Gnade empfängt, mit dem stehts gut. Denn Gnade ist Königin auf dem Weg zum ewigen Heil, dieser selbst ist ein Gnadenweg. In dem Beispiel des Zöllners ist daher im Allgemeinen der Weg zum Heile gezeigt. Indem der HErr auf Seiten des Zöllners tritt und sich dem hochmüthigen Beter aus der pharisäischen Secte widersetzt, ist offenbar, daß nicht eigene, wohl gar nur äußerliche Werke, sondern Gnade und nur Gnade selig macht. Am Pharisäer zeigt sich im Lichte JEsu die finstere Verblendung, an dem Zöllner aber das offne Auge der Menschheit, wie es vom ersten Strahl der Wahrheit erleuchtet wird. Gnadensehnsucht, Gnadenhunger – das ist Morgendämmerung der Ewigkeit und ein schöner Anfang, der auf Fortgang und ein seliges Ende weißagt. Aber der Heilsweg erscheint damit erst im Allgemeinen. Ein helles, aber unbestimmtes Licht, – eine lichte Wolke, in der Gott wohnt, kommt uns

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 074. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/450&oldid=- (Version vom 1.8.2018)