Seite:Wilhelm Löhe - Epistel-Postille.pdf/45

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

mögest hingelenkt werden, welchen die Kirche bei der Wahl dieses Textes gehabt hat.

 Schon wenn du liesest: „Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen,“ kann dir deine Seele bei stiller und aufmerksamer Betrachtung sagen, daß der Ausdruck „allen Menschen erschienen“ über die Weihnachtsgeschichte hinausgreift. Der erste und größte Prediger der Geburt des HErrn, der Engel über den Feldern von Bethlehem, nennt die heiligste Geburt eine Freude, „die allem Volk wiederfahren wird.“ Allem Volk, sagt er, d. i. dem ganzen Volke, dem ganzen jüdischen Volke, und obwol er von der Freude des einigen Volkes Israel redet, unter welchem der HErr geboren ist, legt er sie doch in die Zukunft. Und wenn nun gar unser Text von einer Gnade redet, die zu des Apostels Zeiten allen Menschen erschienen sein soll, also nicht blos dem Volke Israel, so paßt das wol auf die geistliche Erscheinung, d. i. auf die Predigt, die nach des Apostels mehrfacher Aussage schon zu seinen Zeiten überall hin gedrungen war, nicht aber auf das Licht der kleinen Höhle, in welcher, sich unser angebeteter HErr und Heiland in seiner Geburtsnacht mehr verbarg, als erschien. Und so ist es auch. Wer nur mit einem Blicke die Epistel übersieht, der findet, daß St. Paulus in ihr schon davon redet V. 14, daß sich JEsus Christus für uns „hingegeben habe, daß er uns erlösete.“ Er denkt sich also bereits das ganze irdische Werk JEsu Christi, von der Menschwerdung bis zum Kreuzestode und zur Erlösung, als abgeschloßen, das Knäblein in der Krippe schon vor Gott als das siegreiche Lämmlein, das für uns geschlachtet, ein Löwe Gottes geworden ist, und von welchem die sieben Geister Gottes ihren Schein und ihr Zeugnis allenthalben geben. Er sieht den Schein, der aus der kleinen Höhle drang, der über Zion ausging, bereits die Welt umweben, und die Predigt von dem Siege des Erlösers

als eine mächtig erziehende Gnade, welche die Heiden, die im Lichte Zions wandeln, für den frohen Tag der Wiederkunft des HErrn bereitet.

 Wenn das nicht wäre, weshalb sagte er denn: Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen, und züchtigt uns, oder, im jetzigen Deutsch zu reden, erzieht uns? Sieh den Text an und überzeuge dich, daß von der erziehenden Gnade Gottes die Rede ist, und daß dieses der Hauptinhalt des ganzen Textes ist. Und wenn nicht von einer Erziehung für die Wiederkunft des HErrn die Rede wäre, wozu spräche er denn im 13. Vers, die Gnade erziehe uns, „daß wir warten sollen auf die selige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unsers Heilandes JEsu Christi?“ Zu welchem Ende zeigte er dann auch im 14. Vers den Stand der Vollkommenheit, den wir an jenem Tage erreicht haben sollen, indem er uns ein „Volk des Eigentums, das fleißig sei in guten Werken,“ nennt? Es ist wohl nichts gewisser, als daß der Text das Evangelium als die uns für den Tag der Ewigkeit und seine heilige Vollendung erziehende Gnade darstellt, und daß die Kirche, die den Text für heute wählte, diesen Gedanken von einer erziehenden Gnade für sehr paßend und weihnachtsmäßig gefunden haben muß. Ich find’ ihn gleich also. Mag einer sagen, der Gedanke sei nicht so kindlich, wie andere Weihnachtsgedanken: mich irrt das nicht, ich find ihn männlich, herrlich, schön. Er zeigt mir an, was für ein Volk sich alle Jahre am Geburtstag JEsu bei seiner Krippe finden soll, welch Volk seiner würdig ist, nämlich ein Eigentumsvolk, voll Eifer für gute Werke, mächtig fortschreitend von Tag zu Tage durch die erziehende Gnade, die uns erschienen ist. Ja, solch ein Volk soll anbetend beim Gedächtnis der Geburt und der Krippe stehen. Und wenn selbst dieser Weihnachtstext „von der seligen Hoffnung und Erscheinung des großen Gottes und unsers Heilandes Jesu Christi“ spricht; so kann ich auch an Weihnachten die Erinnerung an die Wiederkunft des Menschensohnes nicht bloß vertragen, sondern ich finde, daß die Krippe im Lichte des jüngsten Tages an Lieblichkeit nicht verliert, aber an Majestät gewinnt, während sie mit ihrem lieblichen Troste die Schrecken der letzten Erscheinung lindern und das Auge öffnen kann, zu sehen, daß Der, der kommen wird, kein andrer ist, als der gekommen ist, nemlich Marien Kind, der Friedefürst.

 So laßt euch nun den Weihnachtsgedanken des Textes gefallen, und erlaubt mir, euch darzulegen, wie beschaffen das Eigentumsvolk Christi sein soll, zu welchem Er uns erziehen will. Licht aber und Friede des heiligen Geistes suche uns bei

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 038. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/45&oldid=- (Version vom 1.8.2018)