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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

führen? Er hat es nicht gesagt. Hat die spätere Zeit verschuldet, daß sie so wenige Charismen hat? Gewis, auch! Aber was ists, daß wir Mangel haben, so weit wir nemlich Mangel haben? Der HErr theilt einer jeglichen Zeit, wie jedem Menschen Seine Gabe zu, wie Er will. Wir verdienen nichts. Unser Verdienst ist Strafe. Aber auch andere Zeiten verdienten nichts als Strafe, verscherzten in Sünden Gottes Güter und empfiengen dennoch Gaben und Kräfte: warum? Weil Er wollte. ER weiß, was Er thut, die Classen Seiner Charismen bleiben – und die Zeiten können sich wenden, daß ER gibt, was man nicht verhoffte, und Seine Heilbrunnen und Wunderbrunnen wieder rinnen, strömen und fluthen.


 Indes steht, wie die Säulen Boas und Jachin, am Tempel Salomonis das hohe Gabenpaar, Weisheit und Erkenntnis, auch in dieser Zeit, ja auch an Euern Pforten. Auch regt sich Licht und Stimme der Weißagung: die alten Propheten und der heilige Theologe Johannes reden von den letzten Tagen. Die Weisheit, die Erkenntnis, die Prophetie laßen Ihr Wort erschallen und rufen die nahende Mitternacht aus. Die klugen Jungfrauen schmücken die Lampen und singen vor Dem, der da kommt; – im Chor singt die Braut, die da schwarz ist und doch lieblich: „Komm bald, HErr JEsu!“ Wahrlich, man darf in dieser Zeit dankbar singen: „Er ist bei uns wohl auf dem Plan mit Seinem Geist und Gaben“. –

 Wenn aber die Weisheit, die Erkenntnis, die Prophetie der Alten, die klugen Jungfrauen, die Braut Euch umsonst sagen und singen, ihr aber, wie zur Zeit Christi Jerusalem, nicht auf die Zeit achtet, da ihr heimgesucht seid? Wenn ihr, wie die Gemeinden um euch her, zwischen denen und euch doch einiger Unterschied ist, die breite Bahn der Verdammnis und väterlicher Gewohnheit wandelt? Wenn ihr bei jeder Gelegenheit der Mehrzahl nach beweiset, daß ihr nicht neue Menschen, sondern die alten sündigen Gewohnheitsmenschen seid, die gehalten sein wollen, wie alle, nicht wie man Leute halten muß, die billig die schmale Bahn gehen sollten, weil sie mehr als andere Ruf und Nöthigung dazu haben? Wißt ihr, was mit euch der HErr thun wird? Soll ichs euch aus dem Evangelium sagen und aus meiner weitentlegenen Ferne in Eure schwerhörigen tauben Ohren schreien? – – Ich habe es euch oft gesagt. Ich faße es heute kurz. Ich zeige mit meiner Rechten ins Evangelium, mit meiner Linken auf das brennende Jerusalem, und sage, wiederhole, predige, betheure: „Wer das Wort verachtet, verderbet sich selbst. Die Sünde ist der Leute Verderben. Die Gabe Gottes ist das ewige Leben. Amen.




Am elften Sonntage nach Trinitatis.

1. Cor. 15, 1–10.
1. Ich erinnere euch aber, lieben Brüder, des Evangelii, das ich euch verkündiget habe, welches ihr auch angenommen habt, in welchem ihr auch stehet, 2. Durch welches ihr auch selig werdet, welcher Gestalt ich es euch verkündiget habe, so ihr’s behalten habt, es wäre denn, daß ihr’s umsonst geglaubet hättet. 3. Denn ich habe euch zuvörderst gegeben, welches ich auch empfangen habe, daß Christus gestorben sei für unsere Sünden, nach der Schrift; 4. Und daß ihr begraben sei, und daß Er auferstanden sei am dritten Tage, nach der Schrift; 5. Und daß Er gesehen worden ist von Kephas, darnach von den Zwölfen; 6. Darnach ist Er gesehen worden von mehr denn fünf hundert Brüdern auf einmal, der noch viele leben, etliche aber sind entschlafen. 7. Darnach ist Er gesehen worden von Jacobo, darnach von allen Aposteln; 8. Am letzten nach allen ist Er auch von mir, als einer unzeitigen Geburt, gesehen worden. 9. Denn ich bin der Geringste unter den Aposteln, als der ich nicht werth bin, daß ich ein Apostel heiße, darum, daß ich die
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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 073. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/449&oldid=- (Version vom 1.8.2018)