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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

ihr nicht noch in irgend einem Sinne und den Heiden gegenüber Christen sein, ohne deshalb geistliche Gaben zu besitzen? Könntet ihr sie nicht verloren haben? Ihr könnet sie vielleicht, ja höchst wahrscheinlich wieder haben; aber könnet ihr nicht gegenwärtig doch leer und verlaßen sein? Der Geist ist doch nicht genöthigt, Seine Gaben zu verleihen! Daher laßt euch nur die unbestimmte Antwort auf die zweite Frage gefallen: „Kein Heide kann geistliche Gaben besitzen, aber die Christen können sie besitzen.“

 Man könnte diese Antwort mit dem Spruche erörtern: „Wer da hat, dem wird gegeben“. Der Christ, der es irgendwie ist, der hat etwas, was die gleichartigen, wenn auch doch besondern Gaben des heiligen Geistes nach sich ziehen kann; er hat einen Anfang, der nach Fortsetzung aussieht. Er hat schon etwas Herrliches von dem heiligen Geiste dahin genommen, welches wie ein Garten in Eden ist, in welchem nun die Bäume des Paradieses von Gott gepflanzt werden können; erst muß der heilige Boden da sein, ehe die heiligen Bäume entstehen. Das lehrt uns St. Paul so schön im dritten Verse. „Ich thue euch kund, sagt er, daß niemand, der im Geiste Gottes redet, JEsu flucht, und niemand JEsum HErr heißen kann, als im heiligen Geiste.“ Die Heiden, namentlich welche es blieben und zu bleiben vorzogen, auch nachdem ihnen das Evangelium gepredigt war, haßten Christum und legten auf Ihn und Seinen heiligen Namen das Anathem, den Fluch. Sie verschmähten die Segnungen JEsu, indem sie Ihn verfluchten. Sie hatten keinen Herzensboden, auf welchem die Gaben des heiligen Geistes hervorwachsen konnten. Anders die Christen. Sie erkannten JEsum als HErrn der Welt und als ihren HErrn, und indem sie in das Verhältnis der Unterthänigkeit zu Ihm traten, wurden sie auch Erben Seines Geistes und aller Güter desselben. Erst lehrte sie der heilige Geist, was ohne Ihn niemand lernt, daß es nemlich ein Reich Christi, einen allmächtigen König JEsus Christus gibt; dann führte Er sie ein ins Reich des Königs durch die Taufe, und dann gab Er ihnen die mancherlei Gaben, deren reichen Schatz Er nach Seinem göttlichen Ermeßen verwaltet. Wir sehen also, daß der Grund und Boden, aus welchem heraus alle Gaben Gottes wachsen, die Anerkennung JEsu als unsers HErrn und Königs ist, und daß also die Antwort auf unsre zweite Frage: „Wer kann die Gaben des Geistes empfangen“, keine andere ist als die: „die Christen“ oder was Eins ist, die JEsum ihren HErrn nennen.

 Das lautet freilich einen Augenblick sehr tröstlich für Euch alle, unter welchen der Ausruf: „HErr JEsus“, sprichwörtlich geworden ist. Allein der HErr Selbst sagt: „Es werden nicht alle, die zu Mir sagen „HErr, HErr“ ins Himmelreich kommen“ – und was etwa der Namenchrist aus dem bisher Gesagten sich zum Troste gerechnet hat, das wird durch diesen neuangeführten Spruch wieder weggenommen. Es ist ja in unserm Texte nicht von jenem eiteln und lüderlichen „HErr, HErr sagen“ die Rede, welches allerdings unter uns gemein geworden ist, wie der niedrige Staub und Schmutz. Es ist von einem „HErr, HErr sagen“ im heiligen Geiste die Sprache. Der Vers deutet auf Adoration, auf Anbetung, – auf ernste, wahrhaftige, aus der tiefen Seele hervorkommende und aufsteigende Andacht in und bei dem Namen JEsu. Auf einer Reife, die mich der Beruf des Leidens führte, gerieth ich in die Gemeinschaft derer, die JEsum einen HErrn nennen, Ihn anbeten und anrufen, aber dennoch von Seinem Worte und Wege vielfach weichen. Ich saß in der Gemeinschaft anbetender Christen, welche nicht zur wahren Kirche gehören. Ich fühlte in mir den Wiederspruch gegen ihre falschen Lehren und wurde dennoch mit ihnen zur Anbetung JEsu hingerißen. Mein Geist gieng empor zu dem gegenwärtigen JEsus, ich nannte Ihn innerlich „meinen HErrn“. Da hieß es, wie bei Thomas: „Mein HErr und mein Gott.“ Ich ward erinnert an den Spruch unsers Textes, daß man nur im heiligen Geiste JEsum einen HErrn nennen könne. Ich verstand den Text und meine Seele betete an Den, der mich thatsächlich, mitten in fremder Umgebung thatsächlich den Spruch gelehrt hatte. Unser Text redet von dem „HErr, HErr sagen“ der Anbetung. Wer anerkennend, betend, glaubend JEsum Seinen HErrn nennt und sich Ihm zu Füßen legt, der hat, wovon die Rede ist, die Wirkung des heiligen Geistes, welche der Austheilung besonderer Gnadengaben vorausgehen muß, – die Wirkung, welche alle Christen haben und erfahren sollen, – ohne welche der Geist des HErrn nach

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 068. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/444&oldid=- (Version vom 1.8.2018)