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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

einem andern Weißagung; einem andern Geister zu unterscheiden; einem andern mancherlei Sprachen; einem andern die Sprachen auszulegen. 11. Dies aber alles wirke derselbige einige Geist, und theilt einem jeglichen seines zu, nachdem er will.


 DArum, daß du nicht erkanntest die Zeit, da du heimgesucht bist“ – das sind die Worte, mit welchen der Mund der Wahrheit im heutigen Evangelium den Grund und die Ursache von all dem unaussprechlichen Weh und Leid angab, welches über Jerusalem kommen sollte und auch kam. Jerusalem erkannte seine Heimsuchung nicht, darum gieng es schrecklich unter. Wenn nun Jerusalems Bestrafung uns zum Vorbild und zur Warnung geschah, wie wir nicht werden leugnen dürfen, so fragt sich vor allem, was denn die Heimsuchung ist? Die Antwort auf die Frage ist im Evangelium klar. Jerusalem war heimgesucht, angesehen, Gnade und Erbarmen ihm angetragen durch die Gegenwart JEsu, durch Seinen fleißigen Besuch, durch Seine Predigten und Wunder, welche Er vor allem Volke that. Unsre Heimsuchung ist anders. Der HErr tritt nicht mehr sichtbar in die Welt hinein, redet nicht mehr mit eigenen Lippen; sondern Er hat Seinen heiligen Geist und deßen Wirkungen nachgelaßen, wie Elias seinen Mantel, und Seine Heimsuchung ist nichts anders, als die Erweisung und die Gaben Seines Geistes. Es gibt noch eine heilige, wunderbare Heimsuchung, nemlich die in dem heiligen Sacramente, namentlich dem des Altars. Wir können uns nicht enthalten, auch an sie zu erinnern. Aber wir werden doch durch die Verhältnisse der Textwahl gemahnt, zunächst nicht von der bleibenden, immer wiederkehrenden Heimsuchung gewordener Gemeinden, sondern von der Heimsuchung zu reden, welche der Heimsuchung Jerusalems durch JEsum ähnlich war, – nemlich von der Heimsuchung zur Gründung und zum ersten Bau der Gemeinden. Diese aber geschieht, wie gesagt, durch das Hereintreten eines nicht weltlichen, sondern himmlischen neuen Geistes in die Welt, durch die wunderbaren Wirkungen des Geistes JEsu, der zur Rechten des Vaters erhöht ist. Von dieser Heimsuchung redet die Epistel – und stellt also der Heimsuchung Jerusalems bedeutungsvoll die Heimsuchung der Welt, wie sie seit dem ersten Pfingsten vorhanden ist, zur Seite. Diese Heimsuchung faßen wir ins Auge, nicht als eine vergangene Sache, denn sie vergeht nie völlig, auch wo die Heimsuchung des Sacraments die vorwaltende geworden ist, – sondern als eine andauernde, ebbende, fluthende, aber doch bleibende. Wir betrachten sie und beten, daß wir erkennen mögen die Zeit unserer Heimsuchung, auf daß es uns nicht gehe wie Jerusalem, der großen Königsstadt, über welche die Augen JEsu thränen, über welcher sich aber auch, da Seine Augen thränten, Schalen des göttlichen Zornes füllten.

 Daß unser epistolischer Text von den Gaben des heiligen Geistes handelt, das kann niemand bezweifeln. Er bildet den Eingang von jenem berühmten Unterricht St. Pauli über diesen Gegenstand, welcher sich durch drei Kapitel des ersten Briefes an die Corinther hindurchzieht, nemlich durch Kapitel 12–14, und kündigt das Thema des ganzen Unterrichts, also auch unsers Textes gleich in dem ersten Verse unverkennbar an. „Von den geistlichen Gaben, lieben Brüder, will ich euch nicht verhalten“ oder will ich euch nicht in Unwißenheit laßen. So leitet der Apostel die Belehrung ein. Diese Einleitung oder dieses Thema bedarf zur Erläuterung kaum eines Wortes. Man könnte höchstens bemerken, daß jenes Wort, welches Luther mit dem Ausdruck „geistliche Gaben“ übersetzt, nichts von unserm Worte „Gabe“ in sich hält, sondern weiter, allgemeiner ist, etwa so viel, als wenn wir sagten: „Von dem, was des Geistes ist, will ich euch nicht in Unwißenheit laßen“. Indes ist dem griechischen Worte durch die Uebersetzung eine unverwerfliche bestimmtere Faßung und Deutung gegeben, die sich zum Inhalte schickt.

 Da übrigens die drei Kapitel und schon unser Text einen Unterricht geben und die apostolische Weisheit in wenig Worten viele heilige Gedanken zusammenordnet; so verläuft auch dieser Vortrag diesmal nicht in der gewohnten Weise des neunzehnten Jahrhunderts, nach welcher man einer Predigt am liebsten drei Theile gibt, die man möglichst nach dem Ellenmaße abtheilt. Ich muß, um euch den Ueberblick des Textes zu geben, wenigstens sechs Fragen lösen, die ich euch benennen will, deren Sinn und

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 066. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/442&oldid=- (Version vom 1.8.2018)