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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Am ersten Weihnachtstage.

Titus 2, 11–14.
11. Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen, 12. Und züchtiget uns, daß wir sollen verleugnen das ungöttliche Wesen, und die weltlichen Lüste, und züchtig, gerecht und gottselig leben in dieser Welt, 13. Und warten auf die selige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unsers Heilandes JEsu Christi, 14. Der sich selbst für uns gegeben hat, auf daß er uns erlösete von aller Ungerechtigkeit, und reinigte ihm selbst ein Volk zum Eigentum, das fleißig wäre zu guten Werken.

 DIe beiden epistolischen Texte des heutigen und morgenden Tages sind von einander dem Hauptinhalte nach sehr verschieden; aber sie haben auch wieder manche zufällige Aehnlichkeit, in Anbetracht welcher ihre unmittelbare Aufeinanderfolge am ersten und zweiten Weihnachtstage sich leuchtend rechtfertigt. Die Epistel des heutigen Tages ist dem Inhalte nach ebensowol wie die des morgenden ein sehr umfangreiches, großes und heiliges Ganzes. In beiden ist von einem Hauptpunkte aus ein Ueberblick über die gesammte, göttliche Thätigkeit zu unserm Heile, und über alle gnädige Absicht Gottes mit uns armen Sündern gegeben. Beide, so reich und groß ihr Inhalt ist, werden von dem heiligen Apostel zur Begründung einer Reihe vorausgehender, einzelner Vermahnungen gebraucht, und können uns zeigen, welch’ hohe Gründe nach Gottes Willen ein jeder Christ für sein einfaches, standesmäßiges Verhalten in seinem Herzen haben soll: die Gründe sind höher als das Verhalten. Endlich beginnen alle beide mit einem Schlagworte, welches, wenn es auch gar nicht von der Weihnachtsgeschichte gebraucht ist, doch so leicht und lieblich darauf bezogen werden kann, daß man sich, namentlich bei der Stellung der Texte an den beiden Tagen und der Gewöhnung von uralter Zeit her, dieser Beziehung auch gar nicht mehr erwehren kann. „Es ist erschienen die erlösende Gnade Gottes allen Menschen,“ beginnt die heutige Epistel. Und die morgende beginnt: „Da aber erschien die Freundlichkeit und Leutseligkeit Gottes unsres Heilandes.“ Da man nun schon in der frühesten Zeit und noch ehe das Geburtsfest JEsu nach abendländischer Tradition an seinem rechten Geburtstage, dem 25. Dezember, gefeiert wurde, dies Fest ein Fest der Theophanie, d. i. der Gotteserscheinung, oder der Epiphanie, d. i. schlechtweg der Erscheinung zu nennen pflegte; so ist es ganz leicht erklärlich, daß der doppelte Ausdruck: „Es ist erschienen die erlösende Gnade Gottes allen Menschen,“ und: „es erschien die Freundlichkeit und Leutseligkeit Gottes unsres Heilandes,“ wie unmittelbar aus der sonnenhellen Nacht, die wir heute feiern, genommen, aufgefaßt wurde. Wie gern sagt sich das hoch erfreute Herz: „Die erlösende Gnade, die Freundlichkeit und Leutseligkeit Gottes unsres Heilandes, die liegt Mensch geworden in der Krippe, in der Höhle von Bethlehem, und das Licht von dieser kleinen Höhle streckt sich in alle Welt hinein.“ Wie schön und weihnachtsmäßig ist auch diese Auffaßung, und auf wie vollkommen richtigen allgemeinen Gedanken beruht sie allerdings! Wie gar nicht braucht sie daher aus der Seele des Menschen verwischt zu werden! Lies du getrost, mein lieber Bruder, die beiden Episteln, in dem lieben und angenehmen Weihnachtssinn.

 Dennoch ist es aber auch eine Pflicht des Auslegers, dich einigermaßen von dieser Auffaßung abzulenken, damit du auf den großen Weihnachtsgedanken

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 037. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/44&oldid=- (Version vom 1.8.2018)