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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Trost. Damit hoffe ich nun aber allerdings eine Uebersicht des Inhalts und in derselben einen Leitfaden zur Betrachtung des Textes gegeben zu haben. – Leite nun der HErr, der heilige Geist selbst, unser Nachdenken und fördere unser inwendiges Licht durch neuen Zufluß heiligen Oeles.

 Es sind fünf Versuchungen, welche uns unser Text benennt: erstens die Gaumenlust, zweitens die Versuchung zur Abgötterei, drittens die Versuchung zur Hurerei, viertens zur Herausforderung und Versuchung Gottes, und endlich fünftens zum Murren gegen den HErrn.

 Alle fünf Versuchungen werden an Beispielen der alttestamentlichen Zeit nachgewiesen. Die Kinder Israel in ihrer Wüstenfahrt sind es, deren Verhalten und Ergehen dem heiligen Apostel bei Darlegung aller Versuchungen den Spiegel liefert. – Als die Kinder Israel eine Zeit lang in der Wüste gewesen waren und an dem Saume des rothen Meeres dem Sinai zuwanderten, vermißten sie nach einander bald dies, bald jenes, was sie während ihres Lebens in Aegypten gehabt und gar nicht geachtet hatten. Auf dem ganzen langen und langjährigen Wanderzuge kam ihnen dieselbe Erinnerung immer aufs Neue und erweckte ihnen eine ungöttliche, fleischliche Sehnsucht rückwärts, nach Aegypten hin. Ihre Füße wanderten vorwärts, ihr Herz gieng rückwärts zum Lande, wo sie im Ofen des Elends gewesen waren, daß sie schrieen, wo es aber auch manches gab, was die Wüste nicht hatte, – was sie nicht brauchten, leicht entbehren konnten, aber, weil sie’s einmal gehabt hatten, nun immer wiederkauten in der Erinnerung und auf’s Neue begehrten. So hatten sie in Aegypten Fleischspeise genug gehabt – und in der Wüste gab es kein Fleisch, wenn sie nicht ihre Heerden aufzehren wollten, – und das wollten sie doch nicht. Da gab ihnen nun Gott ein Mal und öfter Vögel; die Winde mußten sie vom Meere hertragen in dichten Schaaren, daß man sie ohne Mühe fangen konnte. Diese Vögel, welche in Luthers Uebersetzung Wachteln heißen, wurden nun verzehrt – unmäßig, und was die Folge war, wie sich die Unmäßigkeit bestrafte und das Volk seine böse Lust büßen mußte, das ist bekannt. Auf dies Beispiel weist der Apostel hin und ermahnt: „Laßt uns nicht gelüsten des Bösen, wie jene gelüstet hat.

 Das Volk war am Sinai. Bereits waren die Offenbarungen vorüber, welche die Gesetzgebung auf Sinai begleitet hatten. Die Wolke des HErrn lag noch, aber schweigend, auf dem Gipfel des Berges; Mose war bei Gott im Dunkel und empfieng alle Belehrung, welche er als Gottes Mund und Prophet an das Volk bringen sollte, um demselben jene einzige, wunderbare Verfaßung zu geben, welche Staat und Kirche, das bürgerliche und kirchliche oder geistliche Leben im alten Bunde regeln sollte. Wer sollte es denken, daß vierzig Tage hinreichen würden, Gottes furchtbare Offenbarung vom Sinai in Vergeßenheit zu bringen, und dem Volke in Moses Abwesenheit Langeweile zu machen? Dennoch geschah es. Das Volk hatte Zeit, sich an Aegypten zu erinnern, und siehe da, die Götzendienste der Heiden und die fleischliche Pracht ihrer Götzenfeste ward ihnen so anziehend, daß sie ein unwiderstehliches Verlangen nach Abgötterei und Götzendienst bekamen. Wer weiß, wie viele unter ihnen, angereizt vom Satan, auf den Gedanken kamen, man müße allerdings den großen Gott nicht vergeßen, Deßen Wolke der Gegenwart auf dem Berge thronte; aber man müße von den Aegyptern lernen, Ihm Dienst und Ehre erweisen. Gott unterwies auf dem Berge Mosen und gab ihm Vorschrift zum wahren Gottesdienst: da mußte der Teufel, Gottes Feind und Affe, zum Götzendienst reizen. Aaron war nicht ganz abgeneigt; er war froh, der bösen Lust auf eine Weise zu willfahren, die einigermaßen vertheidigt werden zu können schien. Er verband die Lehre vom wahren Gott mit dem Götzendienst, und wir wißen, was für ein Teufelsdienst da unten am Sinai losgieng bei dem goldenen Kalbe, und wie das Volk sich setzte, zu eßen und zu trinken beim Opfermahle, und dann aufstand zu spielen, d. i. zu tanzen und zu springen um das Bild her, das sie sich gemacht hatten. „Werdet nicht Abgötter, wie manche unter ihnen, warnt St. Paulus, von denen geschrieben steht: es setzte sich das Volk, zu eßen und zu trinken und standen auf zu spielen.

 Aehnlich gieng es später. Wie da am Sinai der Götzendienst zur erwünschten Fleischesfreude, so

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 060. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/436&oldid=- (Version vom 1.8.2018)