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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

vom Gebet im Geist und Wahrheit. Das zeigt sich ja schon im Worte Pauli: „Ihr habt empfangen den Geist der Kindschaft, in welchem wir rufen Abba, lieber Vater.“ Es muß vom heiligen Geiste gegeben sein, den Vaternamen zu brauchen: der Ausruf und Anruf der Frevler und Gewohnheitsmenschen ist eitel. Im Lichte des heiligen Geistes, in Seiner Kraft, mit voller Wahrhaftigkeit sagen können: „Abba, lieber Vater“, das ist, meine Brüder, eine hohe Lebensstufe, eine gnädige Wirkung des heiligen Geistes. Wer immer es darf und kann, der hat für sich ein Zeichen, daß Gottes Geist in ihm ist und wohnt, daß er, mit unserem zweiten Thema zu reden, den Geist Gottes hat.

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 Es werden hiebei mehrere menschliche Zustände in Betracht gezogen werden dürfen und müßen; der erste ist der Zustand der Sicherheit, der andere der Zustand der Knechtschaft oder der Furcht, der dritte der Zustand der Kindschaft. Der erste ist unser natürliches Leben und Wesen, in dem wir weder Furcht noch Liebe zu Gott haben, die ganze Religion nur in Meinungen, vorübergehenden Ahnungen, Gefühlen und Regungen des Willens besteht, in welchem man aber keinen festen Grund, keine Zuversicht, geschweige Lust und Liebe zu Gott hat. In diesem Zustande leben und sterben die meisten. Der zweite Zustand ist nicht natürlich, sondern erfordert schon eine Einwirkung Gottes und Seines Geistes. Es ist das der Zustand der Knechtschaft, der knechtischen, sclavischen Furcht. Wenn die Stimme Gottes vom Sinai ergeht und die Posaunen des Weltgerichts erschallen und die Erde mit ihren Bergen bebt und hüpft, wenn Gott das Volk Israel in dem Lauf seiner Geschichte mit Strafwundern angreift und es ihnen durch Erweisung Seiner Allmacht zu verstehen gibt, daß Er Gott sei, da erwacht freilich ein Abhängigkeitsgefühl, man fühlt sich im Nichts, im Unrecht, in dem Rechte und der Gewalt des Allerhöchsten. Dieser Zustand ist der der reinen, durch keine evangelische Erweisung gemilderten Gesetzlichkeit, der sich nicht bloß bei alttestamentlichen Juden, sondern auch bei neutestamentlichen Menschen und getauften Christen findet. Wenn Gott einem Menschen durch Seinen Geist die Augen über sich selbst und sein Verhältnis zum Allerhöchsten öffnet, da gibts oft ein Grauen, eine Furcht, eine Knechtschaft, die hart genug lastet. Sie ist keine Sicherheit und ohne Vergleich beßer als diese, sie ist aber wie die grauenvolle Nacht, bevor es dämmert, schwarz, schaurig, aber doch nicht ohne Hoffnung. Der dritte Zustand ist nun eben der des Evangeliums, des Tages, wo man, erlöst von Furcht und Schrecken des Gesetzes, durch den Geist des HErrn vertraut gemacht wird mit dem in Christo JEsu vollendeten Heil. Was vor achtzehnhundert Jahren geschehen, was die Kirche bekennt und lehrt von unserer Freiheit und Frieden in Christo JEsu, das wird durch eine unaussprechliche Wunderwirkung des Geistes Gottes in das Herz als Eigentum gelegt. Aus dem allgemeinen Heil entsprießt das Heil der einzelnen, eigenen Seele, und gelehrt, ermuthigt und gestärkt von dem Geiste des HErrn nennt man nun auch die Erlösung JEsu, die allgemeine, das Eigentum des glücklichen, einsamen, eigenen Herzens. Man lernt mit Demüthigung und Erhöhung sagen „Mein JEsu“ – und in Folge deß „Mein Vater“, „Abba, lieber Vater“. Das fühlt und erkennt sich dann als eine hohe That, nicht als ein bloßes Wort; und in dem Recht und der Macht, so beten, also ,Vater unser‘ im Geiste und in der Wahrheit beten zu dürfen, begreift man dann, daß der Geist in uns ist, daß wir Gottes Kinder sind. Trautes, süßes, aber auch heiliges, hehres Leben, wenn Einer, ein Mensch, der Staub und Asche dem Leibe nach, der Seele nach aber ein kleiner Geist gegen den unermeßlichen Abgrund des göttlichen Wesens ist, sprechen kann zu diesem unermeßlichen Wesen: „Abba, lieber Vater“. Man kann sagen was man will, man kann die Würde, die Ahnung, Sehnsucht, die noch vorhandene Kraft des Menschen erheben, so viel und hoch man will: wer aber bist du, wer sind wir alle – vor Ihm! Stille vor Ihm alle Welt! Aber Seine Kinder sind nicht stille und sollen es nicht sein, sondern es löst sich von ihrem Herzen immerzu der Ruf, der Schrei: „Abba, Vater“. Das ist Rauchwerk vor dem Altar, das steigt auf, das wird gewürdigt im Himmel – und erkannt und gefühlt von denen auf Erden, welchen es gegeben ist. Und wenn sich die Rauchwolken der Anrufung des Vaters im Geiste und der Wahrheit mehren, da mehrt sich im Herzen der Gläubigen die Gewisheit, daß sie den Geist haben und Kinder Gottes sind. – Das ist freilich gar nichts für das Urtheil der Welt, gar

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 055. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/431&oldid=- (Version vom 1.8.2018)