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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

zu leiden, wenn wir der Leiden gewürdigt werden; wohl aber darum, daß viele Gottes Kinder und Erben sind, ohne zu leiden, – und deshalb, weil ich auf diese einen Schatten und eine Trübnis brächte, unter welcher der Satan das Netz der Anfechtung auswerfen könnte und unnöthiger Weise arme Seelen plagen. Denkt an die Kinder, an die jungen Leute, ja an so viele Alte, die in christlichen Gemeinden aufwachsen, leben und sterben, die keinen Haß, keine Verfolgung der Welt zu leiden haben und doch zur Herrlichkeit kommen, und doch den Geist schon hier haben. Man kann mir allerdings einwenden, daß sich auch das gewöhnliche Leid und traurige Lebensschicksal des Christen zum Kreuz verkläre, daß ein christlich Leidender sich als mit Christo leidend ansehen könne; auch könnte man sagen, wenn man recht lebe, wie es Christus wolle, gebe es auch allenthalben etwas um Christi willen zu leiden. Ich weiß das, ich wollte es „ausstreichen“, wenns nöthig wäre; aber davon redet eben der Apostel nicht, und es ist eben doch wahr, daß es Menschen gibt, die, nicht berufen um Christi willen zu leiden, friedlich und still ihres Glaubens dahinleben bis in den Tod und bis sie zur Herrlichkeit gehen. Es ist doch das Kreuz, das Leiden um Christi willen nicht ausnahmlos wie Geist und Erbe Eigentum und Zeichen aller Gotteskinder. Drum bleibe alle Wahrheit, namentlich die des Kreuzes in ihrer Würde, aber ihr, lieben Brüder, laßet euch auch meine nur zweifache Antwort auf die zuerst gethane Frage gefallen.

 Schon in dem, was ich bisher sagte, ist daran erinnert – vorübergehend wenigstens, daß die erste Frage: „Wer ist Gottes Kind“ und deren erste Antwort, von welcher auch die zweite abhängt, eine neue Frage errege, die nemlich: „Wer hat den Geist?“ – Gottes Kind ist, wer den Geist hat. Wer hat den Geist? – Würde man diese Frage für Ungläubige beantworten, so würde man die volle Herrlichkeit unsers Textes nicht enthüllen dürfen, man müßte mehr nach Weise des heutigen Evangeliums auf die Früchte der guten Bäume, in Betrachtung der Epistel aber nur auf die letzte von den drei Antworten weisen, welche wir zu geben haben. Die Welt will ja sehen, hören, sinnliche Warnehmung machen. Allein wir geben unsre Antwort mehr für Kinder Gottes selbst, für welche auch St. Paulus seinen Text geschrieben hat. Kinder Gottes aber tragen innere Spuren des Geistes und seiner Anwesenheit, welche die Welt nicht sieht, von welchen sie selbst erst göttliche Belehrung empfangen müßen, damit sie ihr eigenes mit Christo in Gott verborgenes Leben ein wenig mehr im Lichte faßen. So mögen denn wir, soferne wir Gottes Kinder sind und den neuen Sinn empfangen haben, der Gottes Wege und Werke erkennt, die volle Antwort aus unserem Texte hören und nehmen, andere aber aus diesem weiteren Vortrage nehmen, was sie für wahr und richtig anzuerkennen vermögen.

 Unsere Antwort ist eine dreifache. Den Geist der Kindschaft hat:

1) wer innerlich den Ruf Abba, lieber Vater,
2) das Zeugnis des Geistes von der Kindschaft,
3) den Trieb des Geistes hat.

 Ihr habt nicht empfangen den Geist der Knechtschaft, daß ihr euch abermals fürchten müßtet, sondern ihr habt empfangen den Geist der Kindschaft, in welchem wir schreien Abba, lieber Vater.“ So sagt St. Paulus und zeigt damit ganz deutlich, was der Geist im Herzen der Gläubigen wirkt. Er führt dieselben dahin, daß sie Gott den Allmächtigen und Heiligen mit dem Vaternamen anzurufen sich getrauen. Diese Wirkung des heiligen Geistes scheint im Auge vieler eine sehr allgemeine zu sein. Christus hat uns beten lehren „Vater unser“ – und Millionen und aber Millionen rufen nun schon seit achtzehnhundert Jahren Gott als Vater an. Und nicht das allein, es ist in allen Gebeten von Alters her nichts gewöhnlicher, als Gott im Himmel mit dem Vaternamen anzurufen, eben so ist im gemeinen Leben unsers gesammten Volkes nichts gewöhnlicher als Gott den Vater im Himmel zu nennen; in unserer heimathlichen Gegend wird kaum ein Ausdruck gewöhnlicher und vielgebrauchter sein, als der Name Gottes „Vater“; alles ruft bei Schmerz und Leid: „O lieber Himmelsvater“. Dennoch wird niemand versucht sein, alle diejenigen als Kinder Gottes anzusehen, die Gott im Gebete JEsu und in anderen Gebeten als Vater anrufen und so oftmals ihrer Stoßseufzer sich mit diesem Ausrufe entladen. Es handelt sich nicht von frevelem Wortgebete und eitlem Plappern, sondern

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 054. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/430&oldid=- (Version vom 1.8.2018)