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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

hat. So völlig im Gehorsam des HErrn Christus und Seiner Apostel lebten Seine Heiligen. Bei solchen Texten kann einen eine Wehmuth überfallen. Weder das Leben noch das Leiden der Christen jener ersten Zeiten erleidet eine Vergleichung mit unserer Zeit. Wer lebt denn so und wer leidet also? Bei uns, in uns ist alles so klein, eine traurige Kühle ja Kälte liegt über unser Leben hin, Christus wird nicht gefürchtet, nicht geheiligt, Er ist ein Thema der Schwätzer und Plauderer, die Ihn so wenig scheuen, daß sie erst ausmachen wollen, ob Er lebt oder aber nicht. Die armen Träumer untersuchen und untersuchen, aber sie stehen in gar keinem Verhältnis zu ihrem HErrn, in keinem wahren und persönlichen. Wenn Solche die Leiter der Tugenden im Leben und Leiden erklimmen sollten, von denen unser Text spricht, sie müßten es rein als Heuchler thun, die Schritte der Heiligen nachahmen, ja nachäffen und wie Comödianten, ohne eigne Ueberzeugung, ohne innerlichen ursprünglichen Trieb den Kampf der Heiligen Gottes abschatten. Bei dieser demüthigenden Vergleichung könnte uns schier der Muth ersterben, wenn wir nicht wüßten, daß der alte Gott noch lebt und Seine alte Kraft, daß der Mensch allezeit derselbe gewesen ist, wie er jetzt ist, daß er niemals aus sich selbst und seiner eignen Macht beßer gewesen ist, als jetzt, daß auch in den alten Verfolgungszeiten neben den leuchtenden Beispielen der Heiligen Beispiele des Abfalles, der hinsinkenden Trägheit und Schwachheit zu erkennen gewesen sind. Darum sehen wir, wie ein durstiges Land zum Regen, so nach Gnade aus und rufen den Vater der Barmherzigkeit an, Er wolle uns verleihen, daß Seine Kraft und Sein Vermögen uns zu Hilfe kommen und das aus uns machen, was Er aus uns machen will, auf daß auch wir etwas werden zum Lobe Seiner herrlichen Gnade. Der HErr erhöre uns, dann sei Ihm die Ehre, uns die Freude. Amen.




Am sechsten Sonntage nach Trinitatis.

Röm. 6, 3–11.
3. Wißet ihr nicht, daß alle, die wir in JEsum Christ getauft sind, die sind in Seinen Tod getauft? 4. So sind wir je mit Ihm begraben durch die Taufe in den Tod, auf daß gleichwie Christus ist auferwecket von den Todten, durch die Herrlichkeit des Vaters, also sollen auch wir in einem neuen Leben wandeln. 5. So wir aber sammt Ihm gepflanzet werden zu gleichem Tode, so werden wir auch der Auferstehung gleich sein: 6. Dieweil wir wißen, daß unser alter Mensch sammt Ihm gekreuziget ist, auf daß der sündliche Leib aufhöre, daß wir hinfort der Sünde nicht dienen. 7. Denn wer gestorben ist, der ist gerechtfertiget von der Sünde. 8. Sind wir aber mit Christo gestorben, so glauben wir, daß wir auch mit Ihm leben werden; 9. Und wißen, daß Christus, von den Todten erweckt, hinfort nicht stirbt; der Tod wird hinfort über Ihn nicht herrschen. 10. Denn das Er gestorben ist, das ist Er der Sünde gestorben zu einem Mal; das Er aber lebet, das lebet Er Gotte. 11. Also auch Ihr, haltet euch dafür, daß ihr der Sünde gestorben seid, und lebet Gotte in Christo Jesu, unserm HErrn.

 UNter den Vorwürfen, welche man der uralten Textwahl der Kirche macht, ist auch der, ja besonders der, daß die Episteln der Sonn- und Festtage so wenig von der Hauptlehre der protestantischen Kirche, der nämlich von der Gerechtigkeit allein aus Gnaden, allein durch Christum, allein aus Glauben handeln, dagegen aber so vielfach von der Heiligung und Lebensgerechtigkeit. Ich habe mich schon einmal von dieser Stelle gegen diesen Vorwurf ausgesprochen und möchte es Angesichts der heutigen Texte wiederholt thun. Da handelt zwar allerdings das Evangelium, das berühmte Evangelium, von welchem die Bewegung, die in der Kirche Speners Namen trägt, ausgegangen ist, nicht von der Gerechtigkeit

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 039. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/415&oldid=- (Version vom 1.8.2018)