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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

haben, so sind wir doch mit unserer beglückten Seele nicht zufrieden, sondern es ist uns ein Ziel der Sehnsucht, daß auch unser Leib von der Schmach und Verderbnis des Todes befreit werde und durch die Auferstehung in den Mitgenuß der Herrlichkeit der Kinder Gottes eingehe. Vielleicht können wir sagen, daß die Menschenseele gar keine tiefere, innigere herzlichere Sehnsucht habe, als die nach ihres Leibes Erlösung von den Banden des Todes. So innig verbunden sind Leib und Seele zu Einem Leben und Dasein, daß sie einander nicht missen wollen, und ein gesondertes Dasein für keinen von beiden Theilen, so viel Ruhe und Glück er auch genießen könne oder möge, wünschenswerth ist. Kein größeres Grauen, als das Grauen des Todes und der Trennung; keine mächtigere Sehnsucht, als die, der Gewalt des Todes entnommen, in ewiger Verbindung mit dem anerschaffenen und angeborenen Genoßen die beschiedene Stufe der Herrlichkeit des ewigen Lebens genießen zu können.

 So lehrt uns also unsere heutige Epistel nicht bloß der Zeit Leiden und die Herrlichkeit des ewigen Lebens, sondern auch die durchgreifende Sehnsucht und das Seufzen aller Creaturen und selbst der in die Leiber eingeschloßenen Seelen, der Leiden frei und zum Genuße des ewigen Lebens erhoben zu werden. Ein gemeinschaftliches Zeichen und ein unaustilgbarer Charakter aller Creaturen ist die Sehnsucht, die Unzufriedenheit mit der Vergangenheit und Gegenwart, das Ergreifen einer beßeren Zukunft, auf die man hoffet. Trägt alles in dieser Welt diesen Charakter, so trägt es offenbar auch eine tiefe Wehmuth in sich. So für eine ewige Zukunft bereitet sind alle Dinge, daß Weh und Leid ihnen allen beigemischt sind, und auch nicht ein einziges Ding zu finden ist, dem eine völlige Zufriedenheit beigemeßen werden könnte. So sind denn auch alle Menschen Kinder der Sehnsucht und es kann nicht für Tugend und recht geachtet werden, wenn irgend wer es für möglich oder wahrscheinlich hielte, daß in ihm die Sehnsucht ersterben könne, oder gar für wirklich, daß sie bereits erstorben und völlige Befriedigung schon eingetreten sei. Unser Glück ist jenseits, wie sollten wir mit hiesigen Dingen zufrieden werden können?! Die unerfahrene Jugend träumt wohl von einem vollkommenen Erdenglücke, aber die Alten machen Salomonis Erfahrung und sprechen wie er, daß weder Aug, noch Ohr, noch Herz durch ihren irdischen Genuß zufrieden gestellt und gesättigt werden können. Man könnte freilich sagen, wenn man die Zufriedenheit zu einer Untugend, dagegen aber die Sehnsucht, das ist also doch die Unzufriedenheit, zu einer Tugend mache, so verwirre man alle Dinge, da man doch je und je und gewis mit Recht den Menschen habe Zufriedenheit predigen müßen. Allein so widersprechend in sich selbst und so wunderlich es lauten mag, es ist ja doch so, daß nur derjenige mit allen irdischen Dingen und allem hiesigen Ergehen zufrieden wird, welcher ein Kind der Sehnsucht, also der Unzufriedenheit ist. Wer von den irdischen Dingen nicht verlangt, daß sie ihn völlig vergnügen und zufriedenstellen sollen, der wird gewis mit ihnen leichter zufrieden, als wer Ansprüche an dieß arme Leben stellt, die es weder befriedigen kann, noch soll. Wer erst jenseits das vollkommene Glück begehrt, der wird leicht darüber sich trösten, wenn er es hier nicht findet. So gehen also Sehnsucht und Zufriedenheit mit dem hiesigen mangelhaften Loose in enger Vereinigung zusammen. Bescheiden tröstet sich ein und dasselbige Christenherz seines hiesigen Looses, ja seiner Leiden, weil es ja den Zeiten der ewigen Freude von Stunde zu Stunde näher kommt. Der Leidende nährt die Flamme der Sehnsucht desto treuer, lebt desto mehr von der Zukunft und den stärkenden Kräften der Hoffnung, und findet sich mitten im Jammerthale und Todesthale schon oftmals selig in Hoffnung.

 Meine lieben Brüder, das ist der Inhalt der heutigen Epistel, die geistliche Speise, welche euch heute dargeboten wird. Der Geist des HErrn gebe euch die Macht, euch zuzueignen, was euch gehört. Die Lehre, welche in der Epistel liegt, die so wunderbar und schön ist, wohne euch unvergänglich bei und gebe euch Licht und Trost im Leben. Wenn euch der Geist straft, weil ihr so zufrieden mit der Gegenwart oder auch so ungebührlich unzufrieden mit ihr gewesen seid, so beuget euch unter Sein heiliges Wort und lernet fortan von der Ewigkeit alles, von den Dingen der Erde aber nicht mehr zu erwarten, als ihnen der Vater der Ewigkeit zu leisten verliehen hat. Wenn ihr träge gewesen seid in der Hoffnung, so laßet euch ermuntern und beßern, und wenn ihr

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 031. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/407&oldid=- (Version vom 1.8.2018)