Seite:Wilhelm Löhe - Epistel-Postille.pdf/402

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

ist es nun auch, welcher in der von der Kirche dem Evangelium beigeordneten Epistel unserer Betrachtung vorgelegt wird. Doch ist ein großer Unterschied zwischen Evangelium und Epistel. Im Evangelium ist die Rede von einem Mitleid mit dem fehlenden und darbenden Mitmenschen, in der Epistel aber ist von einer wunderbaren Sympathie und einem mächtigen Mitleiden der unvernünftigen Creatur mit der Menschheit und insonderheit mit den Kindern Gottes die Rede. Jedermann wird leicht dem vollkommenen Worte Christi im Evangelium Beifall geben, es beurkundet sich und bezeugt sich gewis jedes Wort des HErrn im Evangelium in allen Herzen als vollkommene Wahrheit. Anders ist es mit der Epistel; sie enthält nichts, was nicht demjenigen, der einigermaßen sich vor Gott und Seinem Worte achtsam beugt, sich als vollkommene Wahrheit empföhle, aber es liegt in den Worten eine so unerwartete und überraschende Offenbarung von oben her, daß die Menge, auch die christliche Menge sich gegen dieselbe und ihre gläubige wortgetreue Annahme zu allen Zeiten, sonderlich aber in der unsern empört hat. Wie viele Prediger gibt es wohl, die nicht im Betreff unseres Textes und seines Inhaltes das höhnische Lächeln kennen gelernt haben, das der arme Mensch allemal anzunehmen pflegt, wenn er etwas inne wird, das über das Maß seiner Faßungskraft und daher auch scheinbar über das Maß aller Glaubwürdigkeit hinausgeht. Es mag übrigens die von Gottes Lichte verlaßene, dunkele menschliche Vernunft sich gegen die Offenbarung unseres Textes geberden und blähen, wie es ihr gefällt; so hoffe ich doch, daß nicht bloß ich, sondern auch ihr, meine Lieben, euch vor dem Worte Gottes beuget, und den Zusammenhang, der nach unserem Texte zwischen Natur und Gnade ist, die Mitleidenschaft der Natur mit der Menschheit und namentlich mit den Kindern Gottes nicht weniger glaubenswillig annehmet, als ihr die Rede unseres HErrn von der heiligen Pflicht der mitleidenden Liebe anerkennen werdet. Es steht ja auch unsere Textesstelle keineswegs vereinzelt in dem Buche der Bücher. Es wäre nichts leichter, als aus JEsu Munde nicht bloß, sondern auch aus dem Munde aller Apostel und Propheten die übereinstimmende, mit unserem Texte harmonisch zusammenklingende Lehre von dem inneren Zusammenhange des Naturreiches mit dem Gnadenreiche nachzuweisen. Mag deshalb außerhalb der Kirche Gottes, ja von einem Haufen solcher, die innerhalb der Kirche stehen und sich Brüder nennen, wider den Inhalt unseres Textes gesagt werden, was da will, wir einmal weigern uns der harmonischen Rede aller göttlichen Schriften nicht, sondern wir stimmen dem göttlichen Chore zu, bekennen frei und singen mit Freuden das Lied von dem Menschen und dem Mitleiden der Natur mit ihm, ihrem gefallenen König.

 Diese Mitleidenschaft der Creatur ist in unserem Texte nach zwei Seiten hin dargelegt: es ist eine Mitleidenschaft der Leiden hier auf Erden und der Freuden in der andern Welt, und als Brücke zwischen Leid und Freud erscheint eine dem Menschen und der ganzen Creatur eigene unaustilgbare Sehnsucht nach der Herrlichkeit und Freude, die da kommen wird. Hier seufzt Alles, der Mensch und sein Königreich, die Natur; das Seufzen ist ein Seufzen der Last und der Sehnsucht nach Befreiung; dort aber wird Alles mit einander froh, und mit der kleinen Welt, dem Menschen, geht Alles in den Genuß einer ewigen Herrlichkeit und Freude ein.

 Die Ordnung, in welcher die drei großen Gedanken der Sympathie des Menschen mit der Creatur, gemeinsames Leid, gemeinsame Sehnsucht, gemeinsame Freude, in unserem Texte vorgetragen werden, ist die folgende:

 Im ersten Verse der Epistel ist die Rede vom Verhältnis unserer hiesigen Leiden zu der jenseitigen Herrlichkeit. Darauf erst folgt von dem 19ten Verse an die Belehrung und Offenbarung über das Verhältnis der Creatur zu dem hiesigen Leid und der dortigen Herrlichkeit der Kinder Gottes. Da laßt uns nun diese beiden Haupttheile des Textes, und zwar einen jeglichen nach der Art und Weise, wie ihn St. Paulus vorlegt, in die Betrachtung nehmen zur Stärkung beides, unseres Glaubens und unserer Hoffnung.

 Der Eingang unseres Textes schließt sich eng mit dem vorausgehenden Vers zusammen. In diesem hat es geheißen: „Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nemlich Gottes Erben und Miterben JEsu Christi, so wir anders mit leiden, so daß wir auch mit verherrlicht

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 026. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/402&oldid=- (Version vom 1.8.2018)