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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Traum und Wahn und laße in sich die Wahrheit herrschen, daß unser ganzes Leben nichts anders ist und sein soll, als eine freudige Erniedrigung der Christen alles Leid und Weh in der Hoffnung zu überwinden und erhöht zu werden zu Seiner Zeit.

 Durch die Betrachtung des ersten Theiles unserer Epistel sind wir am besten für den zweiten Theil vorbereitet, der seinem Wortlaute nach für den gläubigen Menschen etwas Furcht und Entsetzen Erregendes hat. Wer mit den Sitten der alten Kirche vertraut ist, der weiß, daß die Verse, vor denen wir stehen, nemlich Vers 8. und 9, den täglichen Zuruf bildeten, mit welchem man beim letzten Abendgebet auseinander zu gehen pflegte. Die Nacht, welche ihr natürliches Grauen bei sich führt, wurde von unsern Vätern auch als die Zeit angesehen, in welcher der Fürst der Nacht, der Teufel, die Seelen zu erhaschen strebt. Wer da weiß, was für eine bedeutungsvolle Zeit für das innere Leben die Zeit des Schlafes und des Traumes ist, welche Veränderungen im Innern des Menschen während dieser Zeit vor sich zu gehen pflegen, und wie sie sich auch in das wache Leben des Tages herein erstrecken, wie oft die finstere Zeit des Lebens die lichte Zeit bestimmt und, so zu sagen, im Schlepptau führt, – wer den so angeregten Gedanken Aufmerksamkeit schenkt und ihnen nachgeht, der wird auch finden, warum die aufmerksamen auf ihr Heil bedachten Alten unsere Textesstelle besonders auf die Nacht angewendet haben. Uebrigens kann und wird es nicht die Meinung der alten Kirche gewesen sein, daß der Satan seine nächtlichen Geschäfte blos in der Zeit der leiblichen Finsternis treibe. Hat die Nacht ihr natürliches Grauen, so kann ein aufmerksamer Beobachter auch dem hohen Mittag und seinem grellen Lichte ein Grauen abfühlen, und benützt der Versucher und Feind der Menschen die grauenvolle Nacht, so redet die Schrift auch von Pfeilen, die des Mittags fliegen, von Pfeilen, die, was man auch unter ihnen verstehe, doch immerhin von den Geschoßen des Satans fliegend gedacht werden müßen. Man könnte überhaupt sagen, es habe eine jede Zeit ihren Frieden und ihre Ruhe und eine jede ihr Grauen, und wie in einer jeden die Engel Gottes geschäftig seien, ihre heilsamen Werke zu wirken und ihre himmlische Liebe auszuüben, so bemühe sich auch der Satan mit seinen Engeln allezeit, die Wege der Boten Gottes zu durchkreuzen und ihre unheilvollen und unglückseligen Plane zu verfolgen. Des Teufels Zeit ist, was sein Bemühen anlangt, allezeit, wenn gleich der Allmächtige wacht und nicht immer der Bosheit des finsteren Reiches Raum gibt und Erfolg zuläßt. Es ist Gottes Erbarmen, daß man nicht immer den Feinden der Seelen zugestehen muß: „das ist eure Stunde und die Macht der Finsternis.“ Da nun aber niemand unter uns weiß, und wie JEsus im Garten mit Sicherheit erkennt, welche Stunde dem Feinde und der Finsternis eingeräumt ist, so gilt es nicht blos für die Nacht, sondern auch für den Tag und alle Zeit des Lebens, wenn der Apostel sagt: „Seid nüchtern und wachet, denn euer Widersacher, der Teufel, gehet umher wie ein brüllender Löwe und suchet, welchen er verschlinge.

 Der Widersacher, der Teufel, gehet umher, wie ein brüllender Löwe. Wenn wir oben von der Hand Gottes gesagt haben, daß sie nicht sichtbar sei, daß daher verstanden und erkannt werden müße, wie, wo, und wann sie wirke, so ist auch bei unserem Feind, dem Teufel ein Gleiches zu bemerken. Auch er geht nicht sichtbar herum, und brüllt nicht hörbar. Wie jedermann den brüllenden Löwen scheut, so würde man im Falle eines sinnlich zu merkenden Auftretens auch den furchtbaren Seelenfeind scheuen und fliehen. Eingehüllt in mancherlei Gestalten, versteckt in allerlei Verhältnissen geht der Satan umher. Mit dem brüllenden Löwen, also dem hungrigen, der auf Raub ausgeht und vor Begier brüllt, wird er nur in Anbetracht seiner Begier, seines Hungers und Durstes nach dem Verderben unserer Seelen verglichen, nur wegen der uns bevorstehenden Gefahr, keineswegs aber deshalb, daß er darnach strebte, sein Dasein so vernehmlich anzukündigen, wie ein brüllender Löwe. Der greuliche Feind unserer Seelen hat Schlangenart, nicht bloß groß Macht, sondern auch viel List sein grausam Rüstung ist. Daher verbirgt er sich wie die Schlange gar oftmals unter Blumen und ist oft gegenwärtig, wo man nichts weniger, als das Brüllen eines Raubthieres, sondern im Gegentheil den tiefen Frieden des Mittags oder das angenehme kühlende Wehen des Abends verspürt. Mit diesen Bemerkungen, meine lieben Brüder, habe ich nicht etwa die Absicht, so wie das Bild des Löwen und sein Brüllen, auch den Widersacher, den Teufel

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 020. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/396&oldid=- (Version vom 1.8.2018)