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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 Ueberaus einfach und lieblich ist der Inhalt unserer Epistel, namentlich ihres zweiten Theiles. Nichts ist leichter zu verstehen, nichts kann sich der Einfältigste mit geringerer Mühe und Aufwand der Gedanken zueignen, als diese Warnung vor Tod und Haß, und diese Anmahnung zu Leben und Liebe. Ein desto ernsterer Blick ist es, der aus dem Auge Gottes prüfend in unser Herz fällt. Da heißt es: „Erforsche mich Gott und erfahre mein Herz, prüfe mich und erfahre wie ichs meine, und siehe ob ich auf bösem Wege bin und leite mich auf ewigem Wege.“ Wahrlich, Gottes Auge wird viele auf bösem Wege finden, viele in Haß und Tod, viele bei kleiner Liebe, viele bloß bei dem kahlen Scheine einer Liebe, die keine ist, sondern nur ein schwaches Abbild jener Liebe, ein trügerisches, das wie ein dürres Blatt vor dem Auge des Allerhöchsten verwelkt. Ach, wie viele unter uns haben den hochberühmten Namen der Liebe ohne Ende auf den Lippen, aber ihre göttliche Kraft nicht im Herzen. Viele bekennen die Liebe als Königin und versagen ihr doch den Dienst, sintemal sie ihr nur mit eitlen Worten und purem Schwatzen räuchern, das Rauchwerk aufopfernder Thaten aber nicht kennen, das dem Gott allein gefällt, der die Liebe ist. Selbstsucht thronet, Eigennutz herrschet, Habsucht verwüstet die Seele und das Leben, – bei wie vielen ist es so, bei wie vielen nicht so? Bei wem ist es nie so gewesen? Bei wem ist es in keinem Stücke also, wer darf sagen, ich bin allezeit und in allem ein Diener der reinen Liebe gewesen? Ich hoffe, ja ich sehe und merke, die Versammlung schweigt und innerlich, wenn auch nicht äußerlich, vor Gott, wenn auch nicht vor Menschen, dürfte sich hie und da ein tiefer Gedanke der Buße regen, ob der schauerlichen Versunkenheit der Seelen in lieblosem Thun. An Euch, ja an uns alle ergeht daher das apostolische Wort, die mächtige mahnende Rede Deßen, der keinen Schein will, sondern Wahrheit, und am Schluß der Epistel durch Seine Apostel ermahnet, wie wenn Er mitten unter uns stünde: „Meine Kindlein, laßet uns nicht lieben mit dem Wort, noch mit der Zunge, sondern in der That und Wahrheit.

Amen.




Am dritten Sonntage nach Trinitatis.

1. Petri 5, 6–11.
6. So demüthiget euch nun unter die gewaltige Hand Gottes, daß Er euch erhöhe zu Seiner Zeit. 7. Alle eure Sorge werfet auf Ihn; denn Er sorget für euch. 8. Seid nüchtern und wachet; denn euer Widersacher, der Teufel, gehet umher, wie ein brüllender Löwe, und suchet, welchen er verschlinge. 9. Dem widerstehet fest im Glauben, und wißet, daß eben dieselbigen Leiden über eure Brüder in der Welt gehen. 10. Der Gott aber aller Gnade, der uns berufen hat zu Seiner ewigen Herrlichkeit in Christo JEsu, derselbige wird euch, die ihr eine kleine Zeit leidet, vollbereiten, stärken, kräftigen, gründen. 11. Demselbigen sei Ehre und Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.

 DAs Evangelium des heutigen Tages ist aus Lucä 15 genommen und handelt von dem verlornen Schaf und Groschen. Da sieht man den guten Hirten dahingehen über die Erde und trotz der Welt und ihrem Fürsten in deren eigenen Gebieten das verlorene Eigentum suchen. Diesem wunderschönen Evangelium zur Seite steht die heutige Epistel, nach welcher man nicht den guten Hirten, wohl aber den Fürsten der Welt, den Teufel, brüllend herumgehen sieht auf dem Gebiete des guten Hirten und suchen, welchen er verschlinge. Der gute Hirte und der Wolf, der die Heerde verdirbt, in zwei Texten zwei Parallelen, die nie zusammenkommen, wohl aber sich mächtig widerstreiten. Im Gegensatz zusammengeordnet finden

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 017. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/393&oldid=- (Version vom 1.8.2018)