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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

von den Geheimnissen des göttlichen Thuns auf die des göttlichen Wesens den Schluß zu machen, und während man jener gedenkt, innerlich in beständigem Andenken das Geheimnis des göttlichen Wesens zu tragen und in anbetender Ferne, der eigenen Gnadenwahl und Wiedergeburt versichert, vor dem Gotte niederzufallen, deßen Wesen ein unausforschliches Meer und ein unergründlicher Abgrund, ist.

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 In dem vorausgehenden Kapitel hat der heilige Paulus jenes wunderbare Gegentheil seines Lieblingsgedankens abgehandelt. Sein Lieblingsgedanke ist die Vereinigung Israels und der Heiden zu Einem Glauben und zu Einer Kirche, die Vereinigung der beiden Mauern des ewigen Tempels durch Einen Eckstein. Das Gegentheil davon ist der Gedanke von der Verwerfung Israels auf eine Zeit lang und der Blüthe des Heidenchristentums für dieselbe Zeit, das kräftige Wachstum der eingepfropften Zweige auf dem alten Stamm, während die natürlichen Zweige verdorren, bis auf den Tag, wo es anders wird und Gott nach Seiner unwandelbaren Gnade und Treue aus dem Stamme auch wieder natürlicher Zweige die Fülle und aus ihnen unzählige Früchte erwecken wird. So wie die Vereinigung der Juden und Heiden zu Einer Kirche die heilige Absicht Gottes in der Geschichte ist, so ist umgekehrt das zeitweilige Verderben Israels und das einseitige mächtige Vorwiegen der Heidenchristen die Nachtseite der Geschichte. In beiden aber erfüllt sich das Geschick der Menschheit; in beiden vollenden sich alle Wege Gottes, wie der Geschichte. Bei der Betrachtung beider Seiten der Geschichte wird man, je tiefer man erkennt, desto mehr zu den bewundernden Worten des heiligen Paulus in unserm Texte hingerißen: „O welch eine Tiefe des Reichtums, beide der Weisheit und Erkenntnis Gottes! Wie gar unbegreiflich sind Seine Gerichte und unerforschlich Seine Wege! Denn wer hat des HErrn Sinn erkannt, oder wer ist Sein Rathgeber gewesen? Oder wer hat Ihm etwas zuvor gegeben, das Ihm werde wieder vergolten?“ Außerordentliche Worte sind es, welche ich so eben aus unsrem Texte wiederholt habe, Worte, für deren Deutung meine Einsicht vielfach zu kurz und klein ist. Es ist ja überhaupt so mit den Worten der heiligen Schrift, daß auch die klarsten unter ihnen von Menschen nicht ergründet werden können, manche überhaupt für jede menschliche Deutung zu groß und tief sind, eine große Anzahl aber zwar der Deutung fähig, auch vielfach gedeutet sind, für den bescheidenen Leser aber dennoch bei all ihrem Lichte so viel göttliches Dunkel enthalten, daß man sich schwer für diese oder jene Deutung entscheidet. So mags euch auch zuweilen mit meinem Deuten gehen und ich würde euch vielfach mit demselben gar nicht behelligen, wenn ich nicht doch die Ueberzeugung hätte, daß auch bloße Deutungsversuche, wenn sie dem Glauben ähnlich sind, der aufmerksam betrachtenden Seele zur Förderung gedeihen und die geistlichen Sinne stärken können, und wenn es nicht süß und friedlich wäre, sich gemeinschaftlich mit Gottes Worten zu beschäftigen, selbst wenn man am Ende weiter gar keinen Eindruck bekäme, als den, daß Gottes Wort sehr groß, wir aber sehr arm und klein seien vor Ihm. Darum wollen auch wir es getrost wagen, von den drei Textesversen, die ich zuletzt angeführt habe, die Deutung zu versuchen. Es ist die Rede von einer Tiefe des Reichtums, beide der Weisheit und Erkenntnis Gottes. Die Weisheit Gottes ist, denke ich, jedenfalls die Weisheit, die Gott selbst hat, und von welcher Er, menschlich zu reden, bei allen Seinen Wegen und großen Thaten geleitet wird. Die Erkenntnis Gottes ist aber nicht eine Erkenntnis, die Gott hat, sondern die wir von Ihm und Seinen Wegen besitzen und durch Ihn Selbst empfangen. Die beiden bereits angegebenen großen Gedanken der Geschichte vom Bau der Kirche aus Juden und Heiden, so wie von der zeitweiligen Verwerfung Israels und dem Ueberwiegen des Heidenchristentums bis zu jener Zeit, wo das Reich Israel aufgerichtet wird, enthalten in sich eine Tiefe des Reichtums, beides der göttlichen Weisheit und der menschlichen Erkenntnis Gottes. Wer Gott will erkennen, muß Seiner Weisheit nachgehen, wer aber die Weisheit sucht, der findet sie in demjenigen, was uns die Schrift von den Wegen Gottes, von dem Schicksal der Juden und Heiden offenbart. Je tiefer ihm das Meer der göttlichen Weisheit erscheint, desto tiefer wird seine Erkenntnis Gottes. Der Weg aller Heiden von den Tagen Babels an bis zum ersten christlichen Pfingsten und von da bis zum Ziele, an dem sich der Heiden Zeit erfüllt, ebenso aber auch der Weg Israels vor Christo, in der Zeit vor und nach der babylonischen Verbannung und nach Christo während der Zeit der

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 002. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/378&oldid=- (Version vom 1.8.2018)