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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

 Welche Wirkung des Evangeliums! Gott hat doch weder Seinen Sohn, noch Deßen Evangelium gesandt, die Welt zu richten, sondern sie selig zu machen. Was ist denn Richterliches, was Grelles am Evangelium? Es ist ja rein zufällig, wenn es zur Verdammnis dient. Die Schuld liegt doch auch gar nicht an ihm und in ihm! Sie liegt allein an der Menschen Verkehrtheit, nicht an Gottes Erbarmen: der HErr kann und will ja sogar die Gottlosen gerecht machen, und sammeln, die „Arges thun“, daß sie an Seinem Lichte heil und selig werden!

 Die Geschichte jedes einzelnen Menschen ist weiter Nichts, als entweder gesammelt oder geschieden werden – zum HErrn, vom HErrn. Der Sinn jedes Lebensabschnittes, jedes Tages, jeder Stunde ist Einer: es gilt immer die Wiederholung der allgemeinen Scheidung der Seele von dem HErrn oder ihrer Versammlung zu Ihm. Die Geschichte der einzelnen Menschen und der Verlauf eines jeden Lebensabschnittes, er sei lang oder kurz, ist also immer nur Einer, – ein und derselbe mit dem Verlauf der Weltgeschichte und Kirchengeschichte. Seitdem der Geist der Pfingsten vorhanden ist, geschieht mächtiger, dringender, wie es der „letzten Stunde“ geziemt, was seit dem Fall schon nachweisbar geschehen ist: es sammelt sich aus der Welt die Kirche, es scheidet sich von der Kirche die Welt.

 Schaffe, lieber Bruder, mit Furcht und Zittern, daß du nicht geschieden, sondern gesammelt werdest. Laß jede Stunde aufs Neue deine Seele und alle ihre Kräfte sich neigen vor deinem HErrn und übergib sie Ihm!

 Der HErr aber, der gute Hirte, sammle uns alle fröhlich und völlig zu Sich und zu Seinem Frieden! Amen.




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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 362. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/370&oldid=- (Version vom 1.8.2018)