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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

zu lesen ist, würde ich diese Frage einfach so beantworten: „ER ließ ihnen Seinen Segen. Der Hohenpriester des Alten Testamentes segnete, wenn er aus dem Heiligtum herausgieng; der Hohenpriester des Neuen Testamentes unterscheidet sich von jenem dadurch, daß Er segnet, da Er in das ewige Heiligtum eingeht. Heut ist der Geburtstag des neutestamentlichen hohenpriesterlichen Segens, welchen seitdem alle Hirten den Gemeinden wiederholen, so oft sie nach geschloßenem Gottesdienst den Segen sprechen. Heut ließ Christus den Seinen den Mantel Seines Segens. Die Seinigen ergreifen ihn, wie Elisa, und wirken damit Befriedigung der Gemeinden.“

 Allein ich habe meine Frage nicht aus Lucas, sondern aus Marcus zu beantworten. Marcus redet vom Segen nichts, aber er gibt genug Stoff zur Beantwortung der Frage. – Ehe ich sie beantworte, mache ich auf deren Inhalt aufmerksam. Nicht frage ich, was Christus den Aposteln ließ, sondern was Er den Aposteln und allen den Seinigen ließ. Vergiß das nicht, lieber Leser.

 Der HErr ließ den Seinen die Taufe – und die Wundergaben. Das ist Sein Mantel, reicher an Kraft und Gabe, als Eliä Mantel. Die Taufe ist ein Mantel, die ganze Welt in Gottes Frieden und Segen einzuhüllen; sie ist groß und weit genug zu diesem Zweck, und hat eine Verheißung, nicht eher zu versiegen und aufzuhören, als die Meere, Flüße und Brunnen, von denen ihr Waßer genommen wird, sie bleibt bis ans Ende. – Die Wundergaben? Sie haben alle Einen Charakter, sie streben alle dahin, die Uebel in der Schöpfung wegzunehmen. Auch das Sprechen von mancherlei Sprachen ist ja doch nichts anderes, als die Aufhebung Eines Uebels, nemlich der Sprachenverwirrung, die seit den Zeiten Babels die Welt beherrscht. Alle Folgen der Sünde müßen in Kraft der Erlösung und der Taufe endlich weichen. Die Taufe ist Anfang, die Wundergaben weisen aufs Ende und auf die Vollendung. Weg und Ziel, Mittel und Zweck, Anfang und Ende sind zugleich nicht bloß geoffenbart, sondern gegeben von Dem, der aufgefahren ist in die Höhe und Gaben empfangen hat für die Menschen.

 Die Taufe ist da, sie bleibt, niemand nimmt sie aus der Welt weg. Daran zweifelt niemand. Aber die Wundergaben, wie ist es mit ihnen? „Die Zeichen, welche folgen werden denen, die da glauben, sind diese.“ So spricht der Text. Also denen, die da glauben oder geglaubt haben. Diese Gaben sind also nicht auf die Apostel eingeschränkt, sondern auf die Gläubigen ausgedehnt. So könnte man also sagen, es müße, so lange es Gläubige gebe, auch an Wundergaben nicht fehlen. Wenn man sich an den Anfangs- und Ausgangspunkt alles christlichen Lebens zurückversetzt, also zurück in die Stunde der Himmelfahrt, wo diese Worte gesprochen wurden: wie werden sie von den Aposteln und ersten Christen aufgefaßt worden sein? Wie von den Gliedern der ersten Gemeinden, die in einer beständigen Erfahrung der Wundergaben lebten? Ihre Erfahrungen waren andere, als die unserer Zeiten. Wenn die ersten Christen nach ihren Erfahrungen urtheilten, werden sie dann auch geredet haben, wie wir nach den unsrigen? Und wenn sie nach ihren Erfahrungen das Gegentheil von dem sagten, was so viele von uns zu sagen pflegen, wenn sie die Verheißung Christi als eine allgemeine und andauernde faßten, ebenso, wie jetzige Christen die Verheißung bloß als eine Anweisung Christi für die erste Zeit und ihre Christen aufzufaßen pflegen: wer wird dann richten zwischen den beiden Urtheilen, zwischen diesem Ja und Nein? Der Wortlaut? Er stimmt doch nicht mit der Stimme unsrer Zeiten; spricht er auch nicht völlig deutlich für die Antwort der ersten Zeit, so ist es doch offenbar, daß er sich mit ihr wohl vereinigt, während für unsre Antwort nichts spricht, als unsre arme Erfahrung, die wir am Ende mit unsern Sünden verdienten.

 Ist denn wirklich keine Wundergabe mehr da, seitdem das apostolische Geschlecht entschlafen ist, oder sehen wir nur nicht? Sind denn wirklich z. B. alle die wunderbaren Dinge, welche in der Geschichte der Gründung der Kirche Frankreichs und Deutschlands zu lesen sind, nur Märchen und Erdichtungen leichtgläubiger, betrogener, betrügerischer Menschen? Sollen sie’s deshalb sein, weil etliche neuere Geschichtschreiber so sagen? Glaube denen, wer will. Die Quellen machen nicht immer, aber oft einen ganz andern Eindruck. Am Ende ist der HErr überall mit den Seinen in gleicher Weise gewesen, wo es galt, Seine Kirche zu gründen, zu festigen, zu retten; wo es galt, Seines ewigen Namens Ehre aufs Neue aufzurichten. Am Ende ist auch bei uns die Quelle Seiner Gaben

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 357. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/365&oldid=- (Version vom 1.8.2018)