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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Heiland und Hirte! Lieblich, wie kein Menschenkind dem andern werden kann, bist Du, allmächtiger Gott, den Deinigen! Und Du bist nicht erkannt von allen! Wie traurig ist es! Und kennst denn Du mich als den Deinen? Welch ein Schrecken erfüllt meine allezeit scheidende, sterbende Seele schon bei dem Gedanken: „vielleicht bin ichs nicht!“ HErr, bin ichs? Alle andern Fragen mögen mir ungelöst bleiben, aber die eine Frage laß mich wißen: HErr, bin ichs, bin ich Dein? Du bist mein, ich kenne, ich erkenne Dich, – all mein Wißen, Wollen, Fühlen, – alle meine Buße, mein Glaube, meine Liebe, mein Gebet, meine Hoffnung, mein Leben und Wandeln ist Stückwerk, ist mangelhaft, sündenbefleckt; aber ich kenne Dich, Du bist mir Vollkommenheit im unvollkommenen Leben, an Dir habe ich genug. Das ist ja von Dir, nicht von mir, daß ich in Dir alles mein Genüge suche, nicht in der täglich neuen, reizenden Mannigfaltigkeit der Welt, daß ichs in Dir habe und so oft genieße, daß mir ungerecht Wesen, das ich thue, nicht gefällt! Weil Du mich erkannt hast, so kenne, so erkenne ich Dich; denn es erkennt Dich niemand, den Du nicht erkannt hast, das ist meine Ruhe. Wenn die Wölfe dräuen und heulen, so will ich rufen: „Ich kenne Dich, Du mich! Ich bin Dein, weil Du mein.“ So will ich rufen und ruhen, – darin will ich ruhen, auch wenn „mitten in der Höllen Angst meine Sünd mich treiben“!


Am Sonntage Jubilate.
Joh. 16, 16–23.

 UEber ein Kleines“, so ist alles anders. Es ändert sich unter der Sonne alles in einer Kürze. Alles ist eitel. Unsre Jugend, Freund, wo ist sie? Ueber ein Kleines, so war sie, – und nun wir Männer sind, däucht uns, es sei die liebliche Jugend ein Traum. Erinnerst du dich an die erste Erinnerung, die du aus der Kindheit herübergerettet hast, – wie lang ist es, seit dem du dich erinnern kannst. Es ist alles so kurz gewesen, auch das lang war in seiner Gegenwart. Dahin ist Freud und Leid! – Doch nein, noch wechselt Leid und Freud, keines von beiden ist bei uns einheimisch geworden. So wird es fortgehen, bis der letzte Wechsel hinter uns liegt und von dem ganzen Leben uns nichts mehr übrig ist, als die Erinnerung und das Gewißen. Wie wird es dann um uns, in uns sein, wenn sich nichts mehr ändert, wenn wir außer dem Leibe wallen, wenn wir ans ewige Licht geboren sind? Wenn die Angst der letzten Stunde vorüber ist, was wird man jenseits uns entgegenrufen? Wirds heißen: „todt geboren!“ oder: „willkommen im Lichte!“? Es werden etliche im bleibenden Schmerze, etliche im ewigen Leben wohnen: eins von beiden, Schmerz oder Freude, wird auch dir zur Ewigkeit werden: welches von beiden, das ist die große Frage! „Ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll in Freude verkehrt werden“, spricht der HErr. „Eure Freude soll niemand von euch nehmen,“ versichert der Freudenmeister. Wer sind die, welchen der HErr in diesen Worten eine wechsellose Freude verheißt? Glücklich, wer in ihre Zahl sich zählen darf; wer sind die Glücklichen, die Seligen? Es sind die, welche in der wechselvollen, darum doch im Ganzen traurigen Welt, eine Freude von dem Himmel empfangen, die eben alle Erdenschmerzen zum seligen Ende bringt und in Freude verwandelt. Um die Freude sorge, Bruder! Was für eine Freude ist es? Es ist die österliche Freude, lieber Bruder, – die Freude, daß Er auch des ewigen Todes Pein überwunden, daß Er lebt, daß Er uns lebt, daß Er Unsterblichkeit und Leben für uns ans Licht gebracht hat. Er ist durch Schmerzen, von welchen du keinen Gedanken empfandest, zu ewiger Freude hindurchgedrungen: „über ein Kleines“ war Freude die Fülle und liebliches Wesen auf ewig bei Ihm eingekehrt, die Freude eines ewigen Gelingens, die Freude ewiger Machtvollkommenheit, allen denen, die Ihn anrufen, vom zeitlichen und ewigen Tode zum ewigen Leben auszuhelfen! Glaube an Ihn, darin ist eine Kraft, welche im Kampfe der Welt Anfangs dulden, dann Muth, dann Friede, dann Freude wirkt. Bleib im Glauben, dadurch wächst Geduld, Muth, Friede, Freude. Bleib’ im Glauben, so wird, je mehr die Welt dir verwelken wird, desto mehr eine unbegreifliche, stille Freude sich regen, eine

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 354. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/362&oldid=- (Version vom 1.8.2018)