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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Feinde nur zu sehr gerechtfertigt wird. Von oben her sind böse Geister, die in der Luft herrschen, – unten gähnt ein Grab, in welchem der Tod lauert, – ringsum schreckt und lockt die Welt, die bunte, – und auch inwendig regt sich eine gedoppelte Stimme und eine Unruhe, die nicht aufhört, weißagt unerkannte Gefahren Leibes und der Seele. Der Wolf, das Verderben, droht in tausendfacher Gestalt. Etliche werden vom Verderben ergriffen, jedermann erkennt es, daß das Verderben einen Riß gethan. Die andern werden von Furcht und eigner Weisheit zerstreut hiehin, dahin. Dann heißt es: „Wir sind wie die irrenden Schafe, ein jeglicher sieht auf seinen Weg“, hoffe das Beste von ihm – und am Ende führt er doch auch in das stumme oder verzweiflungsvolle, heulende Verderben.

 Da drängen sich Seelenfreunde, Rathgeber heran. Der eine räth dieß, der andere das: einer rühmt die Weisheit der Alten oder der Neuen, – der andere rühmt den zerrißenen Rock eigener Gerechtigkeit und Tugend, in den man sich hüllen könne und dann keinen Feind zu fürchten brauche, – wieder ein anderer räth, sich in Künste und möglichste Verschönerung und Vervollkommnung zeitlichen Lebens zu versenken, als werde so das Unglück von der getünchten Hütte abgewendet, – etliche suchen Vergeßenheit alles Leidens durch unaufhaltsamen Genuß irdischer Freuden, Ehren, Güter als das beste Mittel, dem Unglück zu entfliehen, anzupreisen. Sie fallen aber alle in die Grube, der Tod erhascht sie alle, die eigene Weisheit hilft am Grabe nicht, die eigene Gerechtigkeit deckt nicht am Thore der kalten Ewigkeit, – alle Bienenindustrie behütet den Schwarm nicht vor dem Feinde, der sein begehrt, und im Lande Gott vergeßener Lust sind Lustgräber bereitet. Es sind lauter blinde Blindenleiter, lauter leidige Tröster, lauter Experimentirer, die keine erkleckliche Erfahrung gemacht haben, lauter Miethlinge, welche selbst vor dem Wolfe davonlaufen, keinen Muth, keine Stärke, keine Ueberwindung darbieten können, denn sie haben selber von dem allen nichts. Sie haben alle nicht die rechte Absicht, denn jeder sucht das Seine – und damit wird kein Wolf vom Nächsten verscheucht.

 Ach Menschheit, unter Mörder gefallene, wer naht dir tröstend im Thränenthale? Wer wird dich erlösen vom Leibe dieses Todes, vom Tode deiner Seele, vom Verderben? – Gott sei gelobt, es gibt noch einen Retter; die Schafe in der Wüste haben noch einen Hirten, der kein Miethling ist, – einen Hirten, vor dem die Heerde der Wölfe sich zerstreut, – einen Gott, der da hilft, einen HErrn, HErrn, der vom Tode errettet! Kennest du Den nicht, Menschenkind, der die Himmel zerriß und auf Erden kam, den Gewaltigen, der allen vernehmlich ruft: „Ich bin der gute Hirte!“? Gut ist Er, denn Er ist Gott, – ein Hirte, deß wir bedürfen, denn Er weiß das Verderben und die Wege, es zu überwinden, und Er hat die Macht zur Ueberwindung. „Der gute Hirte läßt Sein Leben für die Schafe.“ Der gute Hirte läßt Sein Leben für die Schafe, gibt es dem Verderben Preis, dem Wolfe hin, damit der Wolf von solcher Speise sterbe! Was für ein Mittel, das einzige mögliche, außer welchem keines vorhanden ist, das schauerliche, unbegreifliche Mittel, – und Er? Er erbleicht, Er wird betrübt, aber nur eine kleine Weile, – unverzagt, wie ein Löwe, geduldig, wie ein Lamm, ergibt Er Sich drein. Der gute Hirte läßt Sein Leben für die Schafe, Er läßt Sein Leben, – aber Er nimmt es wieder: denn Er hat Macht, Sein Leben zu laßen und wieder zu nehmen. Er nimmt es wieder mitten in den Thalen des Todes, nicht überwunden tritt Er hervor, Er hat den Tod überwunden für uns! Nichts mehr ist zu fürchten: Friede ist mit uns! – „Der HErr hat Großes an uns gethan, deß sind wir fröhlich!“

 Ach, daß Er nach so bewiesener Hirtentreue noch einen Unterschied machen muß zwischen den Seinen und Denen, die es nicht sind. Er hat Sich für alle geopfert, warum fallen Ihm denn nicht alle zu? Er hat den Wolf für alle getödtet, warum freuen sich denn nicht alle Seines Lebens? Ach, warum wollen denn etliche sterben, da keiner mehr sterben muß? Warum bleibt durch der Menschen eigne Schuld die Welt zweitheilig! Warum behält durch der Menschen Schuld die Ewigkeit der Menschen zwei Orte? Warum ist die eine Heerde nicht so groß und viel, als die Menschheit selber ist? Warum muß die Kirche lehren, daß nicht alle selig werden, daß der Himmel nicht alle Menschen vereinige! – Du bist so gut, „Hirte Israels“! Du bist bekannt den Deinen als ein leidender, siegender, suchender, freudenvoll findender, selig weidender, zum ewigen Leben führender

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 353. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/361&oldid=- (Version vom 1.8.2018)