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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

achten, als Ihn. Lesen wir doch (und können wirs ohne Schrecken lesen?), daß, die solches thun, Lügner und des Teufels Kinder, also Schlangensame sind, also dem Fluche unterliegen. Laß uns, wenn Er redet, schweigen, hören, glauben. Was Er uns sagt, das wißen wir nicht; denn wir sind von der Erde, aber Er redet eitel Geheimnis und göttliches Wort. Was Er uns sagt, will nicht zuvor nach alle Seiner Wahrheit erkannt, sondern geglaubt, für heilig gehalten, unterschrieben und beschworen sein. Höre mit vollem Vertrauen, so wirst du erleuchtet, so wirst du neubelebt, so wird aus dir der Tod und was zu seinem Reiche gehört, vertrieben, so lebst du ewig. – Wie viel liegt am vertrauensvollen Hören! Wie gar alles! Höre, gebietet der HErr, und öffnet dir das Ohr. Höre, ruft Er, und nimmt dir deine Taubheit! Höre, ruft Er dem, der, weil der HErr ruft, hören kann. So höre doch und erfahre, wie Sein Wort an Leib und Seele Wunder wirkt! Bete an – höre – und sei selig!


Am Sonntage Palmarum.
Matth. 21, 1–9.

 ZWei Mal im Kirchenjahre kehrt der heutige Text wieder: am ersten Adventsonntage und am Palmensonntage. Woher das? Man begann einst das Kirchenjahr mit der österlichen Zeit, am Palmensonntage, und da las man dieß Evangelium, welches mit seinem nahenden Christus, mit seinem Hosianna freilich trefflich zum neuen Jahre der Kirche paßt. Als man dann später das Kirchenjahr mit Advent begann, nahm man das schöne Evangelium mit hinüber, behielt es aber auch für den Palmensonntag, deßen Geschichte es ja beschreibt, dem es im allereigentlichsten Sinne angehört. An Advent wird es angewendet – und, wie immer verschiedene Zeiten auf eine Bibelstelle ein verschiedenes Licht werfen, oder, richtiger zu reden, jede Bibelstelle zu verschiedenen Zeiten einen verschiedenen Glanz entwickelt, so hat dieß Evangelium an Advent die Eigenschaft, daß es von der Majestät des HErrn strahlt, daß es eitel Freude bietet. Man kann sich in der Adventszeit nicht satt daran hören und singt Ihm immer in dem Liede: „Wie soll ich Dich empfangen“ etc. ein herzliches Echo entgegen. Dagegen würde es für viele überraschend sein, in der Leidenswoche das Freudenlied: „Wie soll ich Dich empfangen“ etc. anzustimmen, und am Palmensonntage erscheint das Evangelium selber in einer ernsten, vom Andenken des Blutes JEsu gerötheten Gestalt. Nicht die Herrlichkeit, die Armuth und Niedrigkeit Seines Einzugs fällt auf. Hosianna klingt nicht, wie ein Freudenton, es ist einem, als wäre es ein großer Spott, das „Kreuzige! Kreuzige“! des Charfreitags ist zu nahe. Die Friedenspalmen, die man Ihm vorträgt und auf den Weg streut, scheinen dem Herzen voll Weh und Leid, den Thränen JEsu bei der Stadt Anblick gar zu sehr zu widersprechen. Ein Ach, eine Klage über die Veränderlichkeit und Unwahrheit des menschlichen Herzens entsteigt der Brust Deßen, der am Palmensonntage, unter den Thoren der Charwoche, den Jubel des Volkes vernimmt. – Und wenn man nun fragt: welcher Eindruck ist der rechte, der, den das Evangelium an Advent, oder den es am Palmensonntage macht? Was wird die Antwort sein? Für den ersten Anblick wird gewis der des heutigen Tages der wahrere zu sein scheinen. Gleichwie einst Josua an diesem Tage durch den Jordan gieng, um mit heißen Kämpfen das gelobte Land zu gewinnen, so schickt Sich ja auch JEsus zu einem schweren Kampfe an. Gleichwie an diesem Tage, sechs Tage vor Ostern, das Passahlamm ausgewählt zu werden pflegte, so stellt Sich ja Christus heute im Tempel dar, um als das rechte Osterlamm nach sechs Tagen unter heißen Schmerzen aufgeopfert zu werden. Eine große Woche, eine unaussprechlich schwere, eine für jeglichen Verstand unbegreifliche Arbeit beginnt der HErr! Er bedarf so sehr das Hosianna, das Gebet: „HErr, hilf, o HErr, laß wohl gelingen!“ Ach, es wäre Ihm der Sieg und Friede, den die Palmen andeuten, so sehr zu wünschen! Aber noch ist Sieg und Frieden nicht zu denken. Der den Harnisch anlegt, kann sich nicht rühmen, als der ihn hat abgelegt? – – Und doch, und doch, dürfen wir nicht so gar in Traurigkeit versinken. Er hat ja vollendet, es ist Ihm ja gelungen, Er ist ja aus der Angst

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 342. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/350&oldid=- (Version vom 1.8.2018)