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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

die Nahrung, sorgen doch immer die Alten für die Jungen, die Großen für die Kleinen, die Könige für die Unterthanen. Das ist ein Wiederschein, aber es ist so lange nur Schein, als nicht ein jeder mit Freuden seinem Nächsten in seinem Theile dient, als er einen Dienst nicht aus Liebe und Gehorsam gegen JEsum leistet. Die Liebe ist die demüthigste, die treueste, die freieste und die freudigste Dienerin aller Menschen. Habe Liebe, dann erst dienst du den Deinigen selig zu Tische.

 Sie werden satt. Ein jeder bekommt, „so viel er will“ (Joh. 6, 11). Mancher wollte mehr, als er bedurfte. Es bleiben viele Brocken übrig, zwölf Körbe voll. Der so leicht das Brot bereitet und die Fische mehrt, braucht nicht aus Armuth zu sparen, Er thuts auch nicht aus Geiz. Aber Gott hat Achtung vor Seinen Gaben und schonet ihrer, läßt sie nicht umkommen. Gleichwie Er Mildthätigkeit nicht für Verschwendung hält, so verwechselt Er auch nicht, wie irrsame Menschenkinder, Sparsamkeit mit Geiz. Ahme du deinem HErrn nach. Sei mild, gib reichlich und spare doch. Spare, achte Gottes Gaben für werth, daß du genau mit ihnen umgehest. Sammle die übrigen Brocken, aber halte nicht für übrig, was zwar du nicht, aber dein armer Nächster bedarf.

 Der übrigen Brocken werden zwölf Körbe gesammelt. Zwölf Apostel dienen zu Tische, ein jeglicher sammelt von der Mahlzeit, bei der sie andere sättigten, auch für sich sein reichliches Theil. Die mit Freuden dem HErrn in Seinen armen Brüdern dienen, haben auch selber nach Seinem Willen ihr täglich Brot, und keiner, der dankbar an des HErrn täglichem Tische bei Seiner geistlichen und leiblichen Mahlzeit sitzt, misgönnt ihnen das. Der HErr ist reich über alle. Sei du günstig gegen alle, die der HErr versorgt, auch wenn ihr Maß voller ist, als deines!


Am Sonntage Judica.
Joh. 8, 46–59.

 GIbt es noch einen, der von sich selber so Großes sagen und doch behaupten darf: „Ich bin von Herzen demüthig“? Kannst du bei andern Menschen die Demuth mit der Behauptung der Sündlosigkeit zusammenreimen, welche unser HErr Vers 46. vor Sich Selber aufstellt? Was würdest du auch von dem unsträflichsten Menschen urtheilen, der vor Abraham gewesen zu sein behauptete und von dem Glauben und Gehorsam gegen seine Worte das ewige Leben abhängig machte, wie das offenbar JEsus Vers 58. und Vers 51. thut? Wäre JEsus ein purer Mensch, so könnte Er, mit Scheu und Schaam sei es gesagt, kein reiner Mensch sein, denn Er würde zu viel von Sich halten und sagen, –und das thut kein reines Herz. Um ein reiner, heiliger Mensch zu sein, muß JEsus Gott sein, oder wir beten, ich sage nicht einen Menschen, sondern einen Sünder an, wie wir sind. Ist Er Gott, so ist über alle Seine Zeugniße von Ihm selber die heiligste, unnachahmlichste Demuth ausgegoßen. Ist Er Gott, dann ist auch kein demüthigerer Mensch auf Erden funden und im Himmel, als Er. Dann sind alle Seine Leiden unverschuldet, dann trägt Er sie nicht Seinetwillen – denn das ist dann unmöglich, – sondern allein um unsertwillen, – denn so sind sie alleine möglich zu denken. – Verzeihe Du, o HErr, daß ich so von Dir rede. Deine Ehre suche ich mit solchen Worten. Ja, Du bist mir erhaben über alles, gleichwie ich Dich erniedrigt unter Alles sehe. Du redest so wenig von Dir, find ich, denn ich sehne mich, bei Dir von Dir mehr zu hören. Deine Worte sind so gar demüthig, wenn Du von Dir Selbst sprichst. Doch auch diese meine Rede ist thöricht. Ich sehe nur Deine Demuth so sehr, weil ich Dich aus Deinem Worte als so gar erhaben erkenne. Ich kanns nicht faßen, wie solche Hoheit und Demuth in Einer Person vereinigt sein können. Ich schweige vor Dir. Ich bete Dich an. Du bist, Du bist mir erhaben über Alles.

 Laß mich, lieber Leser, nicht alleine anbeten, bete mit mir an. Laß uns aber nicht allein anbeten, sondern laß uns aus diesem Evangelium lernen, was Seinen Jüngern und Anbetern ziemt und nicht ziemt. Vor allem ziemt uns nicht, daß wir mit den Juden uns und unsre Väter oder irgend Menschen höher

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 341. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/349&oldid=- (Version vom 1.8.2018)