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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

ruht und wirkt, denen die Hilfe geschehen soll. Dieser Wunderglaube deutet auf ein kommendes Wunder und ist selbst ein Wunder, im Herzen der Leidenden geschaffen vom Geiste des HErrn und zwar auf unmittelbare Weise, wenn auch nicht ohne Wort und Kenntnis der Person des Wunderthäters und des großen Gottes, der helfen soll. Ohne Zweifel ist dieser Wunderglaube etwas Besonderes und Großes, auch etwas Seltenes, während der seligmachende Glaube nach Gottes Willen nicht selten sein, sondern allen Menschen gegeben werden soll, die in diese Welt kommen und sich dem Rufe des HErrn nicht widersetzen. Da ist dann seltener der geringere Glaube, der Wunderglaube, öfter zu finden aber der größere Glaube der seligmachende: denn es ist offenbar, daß man diejenige Ursache größer nennen müße, welche Größeres wirkt, kleiner aber die, welche Kleineres wirkt. Auffälliger ist der kleinere Glaube, der Wunderglaube, weil seine Wirkung sichtbar ist, dagegen aber übt der seligmachende Glaube unsichtbar in die Ewigkeit hinein seine gewaltige Wirkung und geht daher durch unser Leben hindurch in geheimer Herrlichkeit und Majestät. Es gehören feinere Sinnen des Geistes und ein größeres Maß von Wahrhaftigkeit dazu, den seligmachenden Glauben zu faßen, als den wunderthätigen. Doch ist es Ein Geist, der beide wirkt, und wenn der Wunderglaube nicht in dem Wunderthäter, sondern in dem angeschaut wird, an welchem die wunderbare Hilfe geschehen soll, so scheint es, als könne auch der andere, der seligmachende nicht fern sein. Wo ein solches Vertrauen ist, daß man Christo und Seinem Willen so außerordentliche Wirkung auf den Leib zutraut, da scheint es auch nahe zu liegen, ein Vertrauen zu Ihm als Meister und Lehrer des ewigen Lebens anzunehmen.

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 2. Als unser HErr und Heiland Sein Wirken auf Erden beschloß, traten an Seine Stelle die heiligen Apostel und die übrigen Jünger, und der HErr begleitete die Predigt des göttlichen Wortes mit Zeichen und Wundern an allen Orten und Enden. Auch gab der HErr nach dem ersten Christengeschlechte vielen andern die Gabe, Wunder zu thun. Sehr häufig gab Er dann den Wunderglauben in doppelter Gestalt, nemlich in denen, welche die Wunder wirken sollten, und in denen, an welchen sie geschehen sollten, so daß oft der Glaube des Leidenden, wie dort bei Petro und Johanne an der schönen Thür des Tempels durch den Glauben des Wunderthäters, oftmals aber auch der Glaube des Wunderthäters durch den des Leidenden erweckt wurde. Einer sah an der Gegenwart des andern, daß eine Stunde der Hilfe und Erbarmung des Allerhöchsten gekommen sei. Es gibt ja freilich ein falsches Vertrauen, wie in den Leidenden so in denen, die sich unterwinden, in Gottes Namen Hilfe zu leisten, aber dieses Vertrauen wird zu Schanden, das rechte Vertrauen erweist sich seinerseits dem aufrichtigen und weisen Christen so ziemlich kenntlich. Daher bei den Alten, wenn auch Vorsicht gegenüber der Täuschung, so doch auch Wachsamkeit und Aufmerken auf das Vorhandensein des doppelten Glaubens in dem Geber und Empfänger zu finden ist. Da ein Lehrer der alten Kirche gerufen wurde, einem Kranken die Hände aufzulegen, daß er gesund würde, antwortete er, er habe die Gabe der Wunder nicht. Als ihm aber ein anderer nach empfangener Weisung durch einen merkwürdigen Traum Zeugnis ablegte, daß sein Handauflegen gesegnet sein würde, erweckte sich in ihm die vorhandene Gabe, er legte betend die Hände auf und der Kranke ward heil. Da erwachte also der Glaube des Gebers am Glauben derer, die da nehmen sollten, er konnte, was man von ihm begehrte, nachdem er durch Auffindung seines Zwillingsbruders sich selbst in Leben und Stärke fand. Sogar diese Regel des Altertums findet in Christo und Seinem Verhalten ihr Beispiel, denn Er heilte, die Ihm vertrauensvoll nahten, und gieng vorüber an denen, denen kein Gottesgeist im Herzen den großen Helfer in dem Menschensohne zeigte. – Obwohl bei uns die Gaben der Heilung in so geringem Maße vorhanden sind, daß viele Gottesgelehrte behaupten, sie seien gar nicht mehr vorhanden, so ist doch diese unsere Rede nicht bloß für die Beurtheilung früherer Zeiten, sondern auch für etwa auftauchende Fälle in unserer Zeit nicht ohne Wichtigkeit: es liegt eine Erweckung zur Vorsicht und ein Befehl zur nüchternen Prüfung darinnen, daß man hört und weiß, daß es einen doppelten Wunderglauben gebe, den einen im Geber, den andern im Nehmer, und daß sich insgemein beide einstellen, wo einer von beiden berechtigt ist, aufzutreten.


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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 330. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/338&oldid=- (Version vom 1.8.2018)