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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

des Allerhöchsten selbsteigene Zusammenfaßung des gesammten Evangeliums in ein einziges Wort. Oder weshalb hätte denn der HErr dem Erlöser, noch ehe Er in Mutterleibe empfangen war, noch ehe Er in das zeitliche Dasein eintrat, den Namen gegeben, wenn Er nicht Seiner eigenen Idee und Meinung von dem entsprochen hätte, der da kommen sollte. Der, welchem alle Seine Werke von Anfang her bewußt sind, hat alles, was Er uns in JEsu schenken wollte, in diesen Seinen Namen gelegt. So müßen wir auch alles in dem Namen finden können und wie der Strom aus dem Quell fließt, so muß alle Herrlichkeit und aller Segen der allerheiligsten Person JEsu und Seines Werkes aus diesem Namen abgeleitet werden können. Aus diesem Namen „JEsus“, nach der Deutung des Engels: „Er wird Sein Volk selig machen von ihren Sünden.“

 Dieser volle reiche Name, der aus dem Herzen Gottes entsproßen, von Engeln geoffenbart, von der gebenedeiten Mutter zuerst vernommen und gelernt und am Tage der Beschneidung von der alttestamentlichen Kirche dem neugebornen Erlöser gegeben worden ist, der seitdem von der Kirche mit Andacht ja mit Anbetung gesprochen und unzählige Male alle Tage und Stunden wiederholt wird, der genannteste, der gesegnetste unter allen Namen auf Erden stehe auch an den Pforten dieses Jahres und sei uns wie eine ausgeschüttete Salbe des Wohlgeruches, wie das Salböl des Hohenpriesters Gottes, das vom Haupte desselben herabträuft in seinen ganzen Bart und von diesem in sein Gewand. Er sei das erste Wort, welches die Unmündigen lernen, das letzte Wort der sterbenden Zungen, der letzte Klang den sterbenden Ohren, das erste Wort unserer Ewigkeit und die Summa unsrer unsterblichen Lieder in der Heimath. Auch in diesem Jahre erschalle Er von Tage zu Tage, von Stunde zu Stunde; Er nehme zu auf Erden, alle Lande müßen Seiner Ehren voll werden und am Ende alle Creaturen einstimmen in den Ruf: „Gelobt sei JEsus Christus!"


Am Sonntage nach dem Neujahrstage.
Matth. 2, 13–23.

 1. „Warum hat der Engel nicht lieber Herodis Unthat gehindert, statt sie bloß dem Joseph anzusagen? Oder warum hat er sie nicht auch den Eltern der andern Kinder angesagt, daß sie ihre Kleinen hätten retten können? Warum hat Gott die böse That nicht gehindert? Warum hat der Allwissende geschwiegen?“ – So fragst du, mein Freund? Ich weiß die geheimen Absichten Gottes nicht. Ich bin nicht Sein heimlicher Rath. Aber ich weiß, daß die Kinder nach den kurzen Todesaugenblicken großen Frieden und ewige Freuden fanden, daß sies nicht mehr gereut, durch einen starken, ausgereckten Arm entrückt worden zu sein. Auch die Eltern klagen nicht mehr, Rahel beweint ihre Kindlein nicht mehr. Wenn dus wüßtest, wie sie dort singen: „Der HErr hats gegeben, der HErr hats genommen, der Name des HErrn sei gelobet!“ Alle, die es angieng, sind nun zufrieden. Du, mein Freund, lerne von ihnen Ergebung. Nimm dir vor: „Ich will in diesem Jahre von Gott nur Gutes erwarten!“

 2. „Ach, die armen Kindlein!“ jammerst du fort. Jammere nicht. Mit Ausnahme des Engels sind alle Personen, welche in diesem Evangelium genannt werden, mehr zu beklagen, als die Kindlein. Sie leiden um JEsu willen und dringen zu Seinen Freuden hindurch. Ein kurzer Wechsel führt sie zum unwandelbaren Lichte. Aber die Eltern der Kinder, sie haben den Todeskelch ihrer Kinder lebenslang zu schmecken. Und die Eltern JEsu, – an sie, an ihre Flucht, an den traurigen Abschied von dem lieben Lande und allem, was theuer ist, an ihre Angst um das hochgelobte Kind, – an das alles denkst du nicht? Und an Herodes, – denkst du an ihn? Ist er zu beneiden um diese That! Er hat schwer aufgeladen: ob sein Schifflein nicht auf dem Meere seiner Sünden ewig untergeht? Kennst du sein Ende, sein schauriges, schreckliches Ende? Klag um ihn! Von den Kindlein ist geweißagt: „Sie werden wiederkommen“; von Herodes und für ihn ist nichts zu hoffen. – Und, mein Freund, wie kannst du über den Leiden der Kindlein das Kindlein vergeßen, deß Leiden uns am meisten angeht? Die Kindlein

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 325. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/333&oldid=- (Version vom 1.8.2018)