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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

großem Geschrei und Thränen, mit Angst und Weh und Leid zugehen, und die Mutter wird alles sehen, und wißen und miterleben, sie wird es auch erleben, wie „der Herzen Gedanken“ über, für und wider ihren Sohn sich offenbaren werden. Denkt nur daran, wie sie es erlebt hat, als sie am Kreuze stand und die Hohenpriester und Pharisäer vorübergiengen und spotteten und höhnten. – So ist also auch das Leben und Glück des Gottessohnes, so lange Er hier auf Erden Seinem Ziele nachjagt, dem irdischen Wechsel zwischen Licht und Finsternis, Freude und Jammer ausgesetzt, ja es findet sich das alles bei Ihm in einem solchen Maße, daß man sagen könnte, das Ergehen aller andern Menschenkinder sei nur ein Mitleiden, ein Nachleiden, ein schwaches Abbild Seiner Leiden. Seine heilige und selige Jugend mündet wie ein klarer Bach, der von grünen Wiesen kommt, in die Katarakte einer arbeits- und mühevollen Manneszeit und von da hinab in unbegreifliche Todesleiden. Wohlan denn, wenn es Ihm also geht, warum erwartest du für dich etwas anderes. Christo nach gehen, mit Ihm gleiches Schicksal haben in der Zeit, das laß dir nur gefallen, du wirst auch mit Ihm Seine Ewigkeit genießen. Gewöhne dich bei Zeiten, alles im Lichte der Ewigkeit anzusehen, dann bleiben dir auf Erden alle deine Freuden und es verklären sich alle deine Leiden durch den Blick auf das ewige Ende, welches sie zu nehmen bestimmt sind.


Am Neujahrstage, als dem Beschneidungsfeste Christi.
Luc. 2, 21.

 WEr das heutige Evangelium mit Aufmerksamkeit betrachtet, und sich darnach die Frage vorlegt, wovon dasselbige mehr handele, von der Beschneidung Christi oder von dem Namen JEsu, der wird schnell zu der Antwort kommen: Es ist mehr die Rede von dem Namen JEsu, als von der Beschneidung, und wer den Grundtext kennt, der wird es wohl bestätigen, wenn jemand sagt, es sei von der Beschneidung nur gelegentlich die Rede, die eigentliche Absicht des heiligen Lucas aber sei gewesen, von der Namengebung JEsu zu sprechen. So ists, wenn man den Text ansieht. Will aber jemand die beiden Ereignisse des heutigen Tages, die Beschneidung und die Namengebung JEsu gegen einander abwägen, und die vorherrschende Wichtigkeit bestimmen, so könnte er vielleicht in eine Verlegenheit gerathen. Die Beschneidung ist ja bekanntlich an und für sich im Leben JEsu eine sehr große und wichtige Sache, die erste Blüthe des Blutes und der Leiden JEsu; sie gehört gewis zu der heiligen Verpflichtung des HErrn, alle Gerechtigkeit zu erfüllen. Auf der andern Seite wiegt der Umstand so viel, daß der Name JEsu nicht bloß in unserem Evangelium hervorgehoben, sondern schon vorher, ehe Er noch von Seiner Mutter empfangen war, von Gott Selbst durch Seinen hohen Engel Gabriel der gebenedeiten Mutter und damit der ganzen Kirche offenbart und mitgetheilt wurde. Das Herz und Wohlgefallen der Christen wird sich wohl geneigt finden, die vorwiegende Bedeutung und Wichtigkeit der Namengebung JEsu zuzuschreiben. Es ist auch ein lieblicher und anmuthiger Gedanke, den heutigen Tag, obendrein den ersten Tag des Jahres als Namensfest JEsu zu faßen und dann zu denken, was alles uns in diesem Namen geoffenbart ist.

 Ohne Zweifel stammt der Name aus dem Herzen Gottes selbst, denn nicht Gabriel, sondern Gott durch Gabriel hat den Namen gegeben. Der Name muß daher nicht bloß der Person, die ihn empfieng, sondern auch Gottes würdig sein. Es muß ein schöner Name sein nach Klang und Inhalt, werth von einem jeden mit Andacht ausgesprochen und erwogen zu werden. Wir sprechen den Namen, wie ihn die Griechen sprechen, nemlich JEsus; im Munde des Engels hatte er ohne Zweifel den ebräischen Klang. In beide Formen der Aussprache muß sich das Ohr erst hineinhören, um die Lieblichkeit und Schönheit des Klanges zu finden: wie bald aber wird allerdings der innere Sinn dem äußeren helfen und erkannt werden, welch ein süßer Ton und Klang in dem Worte „JEsus“ oder „JEsua“ liegt. Ob aber auch der Klang nicht so schnell unser Wohlgefallen fände, als es doch wirklich der Fall ist, der Inhalt des Wortes ist und bleibt allen Seelen heilig als

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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 324. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/332&oldid=- (Version vom 1.8.2018)